Die Zwangsaussiedlungen in der DDR und ihre Wurzeln – Teil 2

Im November lasen Sie bereits den ersten Teil eines Berichts von Gertrud Witzel über die Zwangsaussiedlungen. Sie berichtete über den Befehl 38/52 und die Vorbereitungen dieser Umsiedlungsaktionen. In dieser Ausgabe lesen Sie nun den zweiten und letzten Teil, der sich mit der Durchführung der Zwangsaussiedlungen beschäftigt.

Grundlagendokumente der Aktion „Kornblume“ waren die Verordnung über die Aufenthaltsbeschränkung vom 24. August 1961 und der Befehl 3 5/61 des Ministers des Inneren. Dieses Mal war die Organisation viel besser. Man hatte ja Erfahrung. Die an der Aktion beteiligten Einsatzkräfte legten eine sehr vorbildliche Einsatzbereitschaft an den Tag. Alles, aber auch alles unterlag der Kontrolle durch die Staatssicherheit. Angefangen von den Kraftfahrern, die mit den Umzügen betraut wurden bis zu den „Schätzkommissionen“ und den Betroffenen selbst. Schon am Wohnort, wo sie von der Terrorwelle überrascht wurden, waren Spitzel eingesetzt, die zielgerichtet das Verhalten der zu deportierenden beobachteten, jede Äußerung registrierten und Berichte schrieben. Das Gleiche wiederholte sich am Ankunftsort. Empfangen von Menschen, die den Deportierten helfen wollten, befanden sich Spitzel mit zielgerichteten Aufgabenstellungen. Auch in der Folgezeit wurden wir bespitzelt. Selbst die Arbeitsstelle wurde zielgerichtet danach vermittelt, ob sich dort ein IM befand, der die „operative Kontolle“ übernahm. Die staatlichen Behörden, wie z. B. der Rat des Kreises, waren in diesem Planungsspiel fest verankert. Dem Netz der Staatssicherheit zu entkommen, war für die 61 er unmöglich ... Aus dem Handbuch des Inneren: Pkt.2.2.2.
Bei den Ermittlungen ist eine enge Zusammenarbeit mit den gesellschaftl. Kräften des Wohngebietes, Hausgemeinschaften, Nationale Front usw. erforderlich, da diese in der Regel die Beziehungen des Täters zu anderen Personen und die Lebensverhältnisse am besten bekannt sind.
Vorschläge und Hinweise können an die örtl. Organe der Staatsmächt, von Abgeordneten, Ständigen Kommissionen der Volksvertretungen, Ausschüssen der Nationalen Front, Vorständen sozial. Genossenschaften, Leitern der Betriebe, örtl. Räten oder Sicherheitsorganen, unterbreitet werden.

Wie wir später erfahren haben, hatte man lange in Lengenfeld darüber beraten, wer für
die Zwangsaussiedlung in Frage kam. Leider fiel unsere Familie immer wieder durchs
Netz. Das sagte uns ein Besucher aus Lengenfeld in den Wochen danach, der das sehr
bedauerte. (?) Aber er hatte sich wenigstens zu uns getraut.

Ausgewählt waren 10 Familien und Pater Florentin (er wurde ja genug bespitzelt, wie
sich herausstellte)

Tatsächlich zwangsausgesiedelt:

  • Fam. Clemens Fick 4 Personen
  • Fam. Erich Hahn 4 Pers. (die Mutter versehentlich, durfte aber nicht zurück!)
  • Karl Hardegen 1 Pers.
  • Fam.Otto Hildebrand 5 Pers.
  • Farn.Werner Witzel 3 Pers.

Am 3.Oktober früh gegen 5 Uhr wurden meine Eltern durch starkes Klopfen an den Fenstern aus der Wohnung geholt. Polizei mit auf uns gerichteten Gewehren, und in Zivil gekleidete Personen teilten uns mit:
„Zwecks Regierungsmaßnahmen werden sie von Lengenfeld nach Buttelstedt umgesiedelt. Innerhalb 3 Stunden haben sie Ihre Wohnung zu verlassen. Sie bekommen eine Zweieinhalb-Zimmerwohnung, nehmen sie entsprechendes Inventar mit.“
Vorgefahren waren bereits LKWs mit Angehörigen von Betriebskampfgruppen. Haus und Hof waren von bewaffneten Organen umstellt. Jeder von uns wurde von solch einem begleitet – egal, wohin wir gingen.
Völlig verwirrt, fassungslos und tatenlos mussten wir mit ansehen, wie verschiedenes Mobiliar verladen wurde. Schränke wurden ausgeräumt, Lampen wurden abgeschraubt. Es war niemandem gestattet, den Hof zu betreten oder sich zu verabschieden. Anschließend mussten wir hinten auf den LKW zu unserem Mobilar klettern, bekamen jeder einen Verpflegungsbeutel (mit Bananen) und die Fahrt ging an ein für uns unbekanntes Ziel. Den Verpflegungsbeutel warfen wir gleich zum Dorf raus weg. Wir wurden dann 100 km weiter nach Buttelstedt (Kreis Weimar) gebracht. Die Fahrt dauerte unendlich lange. Wahrscheinlich war unsere Route nicht direkt – es wurde ja an alles gedacht. Dort angekommen, verweint, verschmutzt, kamen wir auf einen verlassenen Bauernhof mit 5 ha Ackerland. Der Besitzer war mit seiner Familie in den Westen gegangen. Auf dem Hof wurden wir erwartet von der extra für uns zuständigen Kommission (Parteisekretär, Bürgermeister, Rat, Vertreter v. Rat des Kreises und andere zivil gekleidete Personen). Die Transportleute räumten die Möbel ein und stellten die Kästen ab. Man versuchte uns zu beruhigen. Mein Vater könnte sich in die LPG Typ I eingliedern, da der Hof dazugehörte. Für mich stünde eine Arbeit in der MTS bereit. Mein Bruder, 7 Jahre, kann die Schule weiter besuchen. – Alles bestens. –
Uns ging es schlecht!
Tagelang saßen wir auf unseren Kisten, konnten nicht fassen, was passiert war und hofften, dass alles ein Irrtum wäre. Die Woche darauf begannen wir zu arbeiten, um abgelenkt zu sein. Wir wurden nun rund um die Uhr bewacht. Vor unserem Wohnhaus standen ständig einzelne Personen (später stellte sich heraus, es waren Polizeihelfer) und taten gewissenhaft ihre Pflicht – notierten, wer ein- und ausging, wer uns besuchte. Wir haben in den Folgejahren sehr gelitten und uns immer wieder gefragt: Warum? Unzählige Eingaben haben wir gemacht. Die Antworten waren immer dieselben: „Wir haben sie weitergeleitet.“ Eventuell wurde der Eingang bestätigt, dann war Ruhe.
Die LPG Lengenfeld hat dann unser lebendes und totes Inventar übernommen. Die
Liste wurde uns nachgereicht. Die Räume wurden versiegelt. Nun wurde mit meinen Eltern verhandelt. Ein Zurück wie 1952 gäbe es nicht mehr. Wir sollten dort wieder eine Landwirtschaft kaufen und dürften sogar wählen.

Nachstehend habe ich aus dem Lagefilm des Führungsstabes des Rates des Bezirkes einige Ausschnitte abgeschrieben:

5.50 Uhr

Einsatzstab Heiligenstadt meldet: Alle Fahrzeuge wurden zu den Einsatzorten in Marsch gesetzt. Der Einsatzleiter d. HO Kreisbetriebes H. konnte die übertragenen Aufgaben nicht durchführen, da er sich betrunken hat.

8.45 Uhr

Kreis Mühlhausen, I. Stellvertreter meldet: Von einigen Gemeinden wird ruhiger Anlauf gemeldet. Bisher keine Besonderheiten.

12.45 Uhr

1. Stellv. Gen. Urbach, Mühlhausen: In den Orten Faulungen und Lengefeld (sic!) planmäßiger Verlauf, in Faulungen bis auf eine fertig. In Lengefeld (sic!) 5 fertig. In Hildebrandshausen fertig. Der Pfarrer in H. heißt Rowinski, der die Aktion positiv unterstützt. Die Räumung der umzusetzenden Personen in Diedorf und Schierschwende geht planmäßig
vorwärts. In Faulungen wollten die werktätigen Frauen der Strumpfwarenfabrik streiken. Der Einsatz von Agitatoren verhinderte das. Katharinenberg: Die Stimmung der Bevölkerung ist zurückhaltend. Die Umzugsarbeiten sind etwas verzögert. Der Bürger Döring versuchte die Glocken zu läuten. Er wurde durch Kampfgruppen daran gehindert. Die Kampfgruppen von K. geben eine Verpflichtung ab, keine Westsender mehr zu hören und zu sehen und die Befehle der Partei auszuführen. Umzusetzende Familien, die nicht ortsansässig in K. sind, erklärten: „Nun werden wir wieder eine neue Gegend kennen lernen.“

Wegen guter Organisation wurden einige Genossen ausgezeichnet und prämiert.
Der Begriff „Entschädigung“ ist irreführend. Es handelte sich um eine zwangsweise zugesprochene Summe, die dem Unrechtstaat einen Anstrich von Rechtmäßigkeit verleihen sollte, aber ein Hohn war. Diesen Betrag mussten meine Eltern dann zwei zu eins zurückzahlen, um wieder Eigentümer zu werden. Obwohl nur noch das Wohnhaus stand und eine Ruine von Stallgebäuden. Von Scheune und Inventar war nichts mehr da.
Trotz allem bin ich sehr froh und dankbar darüber, dass meine Eltern es erleben konnten, wieder zu Hause zu sein. Ich hätte es auch all den anderen gegönnt, die vorher verstorben sind bzw. von deren Eigentum nichts mehr übrig geblieben ist, weil es verkauft, abgerissen bzw. verfallen war.

Aussiedlungen sind noch bis 1986 bekannt, allerdings nicht als Großaktion, sondern als Deportation einzelner Familien, nicht minder grausam und unmenschlich.
Zum Schluss noch ein Ausschnitt aus dem Protokoll der am 3. Oktober 1961 abends stattgefundenen Versammlung in Lengenfeld:
„Die allgemeine Einschätzung der Bevölkerung zu den Maßnahmen des Wohnungs¬wechsels sind als positiv zu bezeichnen. In der Einwohnerversammlung am 03.10.1961 erkannten die anwesenden Einwohner nach offener Darlegung der Begründungen in zwei Fällen, dass die Maßnahmen richtig sind, was auch in den Anfragen zum Ausdruck kam. Besonders traten nach der Einwohnerversammlung Diskussionen über den Wohnungswechsel des Gen.-Bauer Clemens Fick auf. In diesen Diskussionen wurde zum Ausdruck gebracht, dass viele Einwohner es nicht verstehen können, dass der Gen.-Bauer Clemens Fick mit unter die Maßnahme fiel, weil er gerade in seiner Arbeit als guter Genossenschaftsbauer bekannt war. In den Aussprachen mit den Genossenschaftsbauern wurde dahin gehend Klarheit geschaffen, dass diese Maßnahme keine Strafmaßnahme ist, sondern den Betreffenden zu seiner eigenen persönlichen Sicherheit dient.“

Wir waren sprachlos.

Glücklich sind wir, dass das alles der Vergangenheit angehört. Traurig über das Schicksal der vielen Betroffen, die zum größten Teil den Krieg erlebten, die dann zuschauen mussten, wie das Vieh aus den Ställen getrieben wurde, weil die LPGs gebildet wurden – und zum Schluss selbst vertrieben wurden.

„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart begreifen und die Zukunft sinnvoll gestalten“