Die Zwangsaussiedlungen in der DDR und ihr Wurzeln – Teil 1

Mit diesen Zeilen soll an all jene erinnert werden, die zu Friedenszeiten schuldlos aus der Heimat vertrieben wurden. Dieser Beitrag soll den Hintergrund der unmenschlichen Deportationen in dem innerdeutschen Grenzgebiet erhellen; soll den Betroffenen, aber auch den Interessierten zugänglich gemacht werden.
Bei den Zwangsaussiedlungen handelte es sich um stabsmäßig vorbereitete Deportationen ganzer Familien aus dem Grenzgebiet in das Landesinnere der DDR. Sie waren Terrorakte und wurden für die Betroffenen selbst völlig unverhofft nachts und in den frühen Morgenstunden unter Waffengewalt durchgeführt. Die Versetzung in katastrophale Wohnverhältnisse, vorprogrammierte berufliche und soziale Schwierigkeiten stützten viele Menschen über Nacht in Not und Verzweifelung. Nicht genug damit – Verleumdungen, unmenschliche Behandlungen und Diskriminierungen quälen diese Menschen auf Jahr und Jahrzehnte.

Die Wurzeln der Zwangsaussiedlungen waren nach dem Muster der sowjetischen Aussiedlungen aufgebaut, welche im Buch „Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn beschrieben werden. Darin thematisiert er Zwangsaussiedlungen in der 1920er Jahren in der Sowjetunion:

„Alle Vorstellungen von Menschlichkeit schiene verloren, die in Jahrtausenden menschlichen Begriff zunichte – wie im Blutrausch wurden die besten Ackersleute mit samt ihren Familien zusammen getrieben und blank wie sie waren in die nördliche Einöde, in die Tundra und Taiga geworfen.
[…] Es musste das Dorf auch noch jener Bauern entledigt werden, die keine Lust hatten, in den Kolchos zu gehen… Auch jener Bauern musste man sich entledigen, die … für Wahrheit und Gerechtigkeit bei den Dorfgenossen beliebt, bei der Kolchosleitung hingegen gefürchtet waren.“ (Auszüge Solschenizyn „Der Archipel Gulag“)
Aber genug des Vorwortes.

In unseren Heimatgemeinden wurden in den Jahren 1952, 1961 und später einige Familien selektiert, die aus irgendwelchen Gründen (welche bis heute nicht bekannt sind), von irgendwelchen Kommissionen festlegten, dass diese Personen es nicht mehr wert waren, in ihrer Heimat zu leben.
Im Beschluss von 13. Mai 1952 heißt es unter anderem im Punkt 8: „Es sind unmittelbare Maßnahmen zur Überprüfung der Parteikader und ihrer Tätigkeit in den bezeichneten Gebieten durchzuführen. Es muss dafür gesorgt werden, dass in diesen Gebieten in die Leitung der Partei und den Massenorganisationen die erfahrensten und politisch klarsten Funktionäre geschickt werden. Verantwortlich: Abteilung Leitende Organe.“ Damit wurde erstmal in ihren eigenen Reihen gesäubert.

Punkt 9: „Für diese Gebiete ist von der Partei ein besonders qualifizierter Instrukteursstab zu schaffen. Verantwortlich: Abteilung leitende Organe.“
Punkt 10: „Die Genossen im Ministerium der Landwirtschaft werden beauftragt, sofort einen Plan für die Umsiedlung der landwirtschaftlichen Betreibe auszuarbeiten. […] Dabei sind genau so Anweisungen über die Durchführung der politischen Massenaufklärungen unter der Bevölkerung über die Notwendigkeit und Wichtigkeit der Maßnahmen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zum Schutz der Republik von Diversanten, Spionen, Schmugglern und Provokateuren zu geben. Verantwortlich: Abteilung Leitende, Abteilung Agitation.“

Der Befehl 38/52 sollte Kriterien zur Auswahl liefern. Dabei wurde die Zeit schon knapp. Der Aussiedlungstermin stand bereits kurz bevor. Schnell musste eine Auswahl der Namen getroffen werden, die noch durch verschiedene Gremien (die noch nicht gebildet waren) bestätigt werden mussten. So kann man sich vorstellen, mit welcher Leichtigkeit über Schicksale entschieden wurde. In der Begründung zur Deportation eines Gaststättenbesitzers 1961 beispielsweise heißt es: „Durch den Ausschank von Alkohol an Grenzsoldaten seien diese nicht mehr in der Lage gewesen, zuverlässig ihren Grenzdienst auszuführen.“
Mit Sicherheit zog man Analysen der Gemeinden mit ein, die seit Ende der 40ger Jahre angefertigt werden mussten. Da spielten auch persönliche Motive eine Rolle: z.B. eine kleine Rache aus der Vergangenheit. Viele Gaststättenbesitzer wurden deportiert.

Ein Ausschnitt aus einem Brief unseres beliebten Gastwirts Erich Hahn (Geist), der 1961 ausgewiesen wurde, später an Depressionen erkrankte und verstarb: „Wir könne uns bis heute nicht den Grund für die Aussiedlung erklären. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich Spitzeldienste für die Staatssicherheit ablehnte. Da ich Gastwirt war, hielten mich die Leute wahrscheinlich für geeignet.“

Die Listen der Auszusiedelnden lagen dann vor. Nach meiner Meinung wurde großen Wert darauf gelegt, dass Vieles ohne Unterschriften geschah. Zum Beispiel wurde angeordnet: FS Nr. 71 vom 5. Juni 1952: „Betr. Instruktion über die Umsiedlung von Personen aus der Sperrzone; Punkt 3: Für die umzusiedelnden Personen ist sofort durch die Sonderkommission für Umsiedlung beim Minister des Inneren des Landes der neue Wohnort zu bestimmen. Die Kreiskommission hat die Maßnahme für den Transport einzuleiten. Es ist dafür zu sorgen, dass keine Massentransporte durchgeführt werden, denn danach ist den Umzusiedelnden sofort durch die zuständigen Dienststellen der Volkspolizei entsprechend dem Befehl 36/52 die Ausweisung mündlich mitzuteilen.

Die Mitteilung muss am Wohnort dem Ausweisenden übermittelt werden, der dann die Mitteilung schriftlich bestätigen muss.“

Wie viele Familien 1952 ausgesiedelt wurden konnte ich nicht genau ermittelt. Als die Zwangsaussiedlung bekannt wurde sind einige Familien noch eiligst über die Grenze nach Westen gegangen. Davon wurden einige Familien wiederum entdeckt, zurückgeführt und sofort ausgesiedelt. Es herrschte großes Chaos in Lengenfeld. Ich war damals 10 Jahre und kann mich noch daran erinnern, dass man während des Unterrichts Klassenkameraden abholte. Der Tag hat sich bis heute bei mir eingeprägt, da Verwandte von uns ebenfalls betroffen waren, die nach Merxleben, Flarchheim und an übrige Kreisgrenzen gebracht wurden. Oft waren die Frauen mit den Kindern allein, da die Männer zum Teil im Westen oder außerhalb des Kreises Ihrer Arbeit nachgehen mussten. Es spielten sich tragische Szenen ab. Von einigen Familien lies man später ab, nicht aber aus Gnade, sondern weil es an Unterkunftsmöglichkeiten mangelte.

Ein Betroffener, dessen Familie nach Greußen versetzt wurde, berichtet, dass das später zugewiesene Schlafzimmer in einem anderen Gebäude war und die Mutter ihre Kinder abends 300 Meter über den Marktplatz zum schlafen bringen musste.
Da die Zwangsausgesiedelten 1952 nicht enteignet wurden, war es ihnen nach Jahren möglich (wenn auch nicht ohne Kampf), nach Hause zurück zukehren. Aber auch nur dann, wenn sie eine Wohnung vorweisen konnten…

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