„Außer Spesen nix gewesen“ – Zur Meinungsfreiheit im Friedatal

Seit ich mit meinem Mann Thomas aus Schwesternwalde aufs Eichsfeld gezogen bin, ist mir unser Ort Lengenfeld unterm Stein eine zweite Heimat geworden, dessen Menschen mir ans Herz gewachsen sind. Und so möchte ich Ihnen, liebe Leser, als Quasi-Außenstehende angesichts der Vorkommnisse der letzten Wochen meine Sicht der Dinge schildern.

So ist mir etwa in all den Jahren aufgefallen, dass man sich in unserem Ort mit einem demokratischen Grundrecht besonders schwer tut – der Meinungsfreiheit. Selbst heute, da der Überwachungsstaat DDR längst Geschichte ist, hat sie für viele in unserem Ort (wie früher) nur hinter vorgehaltener Hand eine Bedeutung. In der Öffentlichkeit ist man hingegen bemüht, sich der „herrschenden Meinung“ unterzuordnen, um nicht in „Schwierigkeiten“ zu geraten. Auch das erinnert an früher.

Öffentliche Diskussionen über Probleme in unserem Dorf finden nicht statt. Zwar haben wir mit dem Lengenfelder Echo ein von allen gelesenes Forum hierfür, jedoch wird darin geäußerte Kritik selten konstruktiv, oft als persönlicher Angriff und meist überhaupt nicht verstanden. Sachliche Diskussionen macht das unmöglich.

Durch diesen Mangel an Diskussionskultur erklärt sich, wieso Probleme mit Mitmenschen in unserem Ort selten im persönlichen Gespräch geklärt werden, sondern dem anderen entweder hinterm Rücken, per Flugblatt, auf Häuserwänden oder per Youtube-Video zugetragen werden. So wird Meinungsfreiheit missverstanden, die da endet, wo die Persönlichkeitsrechte anderer verletzt werden.

Machen wir uns nichts vor: Trotz vorgeblicher Anonymität wussten alle im Dorf binnen Stunden, wer sich hinter der in perfider Anspielung auf die friedliche Revolution vor 20 Jahren (wahrscheinlich aber schlicht aus Ideenlosigkeit) „Forum“ getauften Terrorzelle verbirgt. Angesichts der Ausdrucksweise und Sinnlosigkeit der „Verschönerungen“ unseres Dorfzentrums brauchten die meisten Bürger auch nicht lange, bis sie den jugendlichen Täter aus dem Oberland erkannt hatten (wer würde auch sonst Peace-Zeichen mit Mercedes-Sternen verwechseln?). Und bei den Youtube-Videos muss der aufmerksame Zuschauer im Lichte der Rechtschreibfehler und verwendeten Bilder auch nur eins und eins zusammen zählen.

Der Außenstehende fragt sich hier zu Recht: Wenn doch sowieso jeder sofort weiß, wer was war, wieso schreibt man dann nicht gleich seinen Namen darunter? In unserem Dorf hat es schließlich noch nie eines Beweises bedurft, um für irgendetwas abgestempelt zu werden. Einzige Erklärung: Die Urheber plagt ihr schlechtes Gewissen oder sie fürchten strafrechtliche Konsequenzen. Denn selbst wenn unter diesen Anonymitäten ein Name stünde, als Diskussionsbeiträge taugten sie nicht ansatzweise.

Nun ist es in Lengenfeld nicht bei anonymen Beleidigungen geblieben. Offenbar haben die Flugblätter ihr Ziel nicht erreicht – aber das Strafgesetzbuch ist ja lang. Und vom Paragrafen 303 (Sachbeschädigung) ist es auch gar nicht so weit bis zum Paragrafen 306 – Brandstiftung. Gesagt getan – wird ja eh viel zu früh dunkel zurzeit – wurde am 24. Oktober in den Bungalows am Schloss Feuer gelegt.

Auch hier und bei den nachfolgenden Anschlägen auf das Pfarrhaus war den meisten sofort klar, wo der Hase im Pfeffer lag, aber Beweise gab es natürlich nicht. Das lag natürlich nicht daran, dass niemand etwas gesehen hatte. Im Gegenteil, in den Folgetagen machten die unterschiedlichsten Sichtungen der verdächtigen Personen die Runde. „Und, hast du’s der Polizei gesagt?“ – „Ach jo! Ich sage nüscht! Dann brennt’s noch bei mir.“ Dabei weiß doch der Volksmund: „Viele Hunde sind des Hasen Tod.“ Aber auch: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“

Denn wir leben (leider, würden manche sagen) nicht mehr unter Adolf, Walter oder Erich, wo „solche Leute“ natürlich auch ohne Beweise auf Nimmerwiedersehen weggesteckt worden wären. Nein, wir haben einen Rechtsstaat mit Unschuldsvermutung. Das bedeutet (Obacht!), dass man solange unschuldig ist, bis das Gegenteil bewiesen und dies (wichtig!) richterlich bestätigt wurde. Mit diesem Konzept ist die in Lengenfeld betriebene Hobbykriminalistik (wo man erst mal schuldig ist, falls man zur Tatzeit nicht gerade zufällig und unter 1000 Augen auf der Kirmesbühne eine Runde Freibier verkündet hat) leider nur begrenzt kompatibel. Allerdings glänzt unsere Polizei im Bürgerdialog oft aber auch nicht gerade mit Interesse am Geschehen.

Themenwechsel: Wissen Sie eigentlich, warum Hubert Fischer viele Leute im Dorf anzeigt, warum er mit den Familien Witzel, Stöber, Fiege (Auflistung nicht vollständig) im Clinch liegt und warum man nicht mit ihm reden kann? Nein? Ich leider auch nicht, das war vor meiner Zeit.

Was ich allerdings weiß, ist, dass Pfarrer Bolle in den letzten Jahren erfolgreich der Fischer-Opposition beigetreten wurde – frei nach Schiller: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte!“

Pfarrer Förster hat sich nicht vor diesen Karren spannen lassen und Pfarrer Witzel, nun, wie ich höre, hätte er die Streithähne schon frühzeitig beiseite genommen und das Problem bei Kaffee und Kuchen oder einem Gläschen Wein im Keim erstickt.

Pfarrer Bolle bekommt es aber bemerkenswerterweise hin, Herrn Fischer vor seiner Tür in Gespräche zu verwickeln, die wir trotz Glockengeläut noch am Heinzrain deutlich hören. Und Lengenfeld ahnt: Das also hat er gemeint, als er im Gottesdienst predigte, man solle „Öffentlichkeit herstellen“.

Und dann sein beherztes Einschreiten beim Friedengebet, alle Achtung, das hätte sich nicht einer der Anwesenden getraut – nicht mal die, die zaghaft klatschten. Hier habe ich bisher gelernt, dass man in Lengenfeld entweder anonym jemand Konkretes anspricht (via Flugblatt, Hauswand oder Youtube) oder mit Namensnennung jemand Unbestimmtes („man müsste/könnte/sollte mal“) – wobei dann aber trotzdem jeder weiß, wer gemeint ist. Jedenfalls, persönlich jemand Konkretes kritisieren, das ging bisher nicht. Völlig logisch also, dass Pfarrer Bolle symbolträchtig zum „Friedensgebet anlässlich des 9. November“ an die Kirche einlud und nicht zum Kerzenumgang um das Bahnhofshotel (dem sicher weitaus weniger Leute gefolgt wären). Dass nun wiederum Herr Fischer schon seit Jahren unser Dorf mit dessen eigenen Waffen schlägt, ist kein Geheimnis. Und so war es auch keine Überraschung (mancher wäre gar enttäuscht gewesen), dass er zum Showdown pünktlich erschien. Der Durchschnittslengenfelder hätte diese bewusste Provokation wohl zähneknirschend akzeptiert – Pfarrer Bolle machte von seinem Hausrecht Gebrauch. Das hatte niemand erwartet. Alles andere hätte aber auch den eigentlichen Sinn dieser Veranstaltung vollends ad absurdum geführt.

Ob man nun als Gemeinde einen Menschen, der sonntags bis zum Hülfensberg zur Messe läuft, nicht mindestens genauso behandeln müsste wie so manchen Schaulustigen, der ja eigentlich nur gekommen war, um nichts zu verpassen, wäre in Hinblick auf Schlagworte wie Demut, Feindesliebe, das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder Matthäus 5,23-24 vortreffliche Grundlage einer theologischen Diskussion, aber der Dramaturgie im Interesse heutiger Stammtische und künftiger Zuhörer eher abträglich.

Wie dem auch sei, unser Pfarrer, den sich weiland viele als Vermittler vorstellten, braucht nun selbst einen solchen. Oder auch nicht. Denn inständig hofft man ja noch immer darauf, dass sich die ganze Situation „irgendwie von selbst“ erledigt. Ansonsten kann man die Bemühungen der letzten 10 Jahre im Fall „Frieden im Friedatal“ ganz einfach zusammenfassen: „Außer Spesen nix gewesen“. Oder wie Faust bei Goethe resigniert: „Da steh ich nun, ich armer Tor! und bin so klug als wie zuvor!“

An dieser Stelle möchte ich fast anfragen, ob es – wenn schon nicht gegeneinander – dann vielleicht nicht doch miteinander ginge? Aber da erinnere ich mich daran, dass sich vor Jahresfrist schon einmal jemand mit christlicher Denkweise in die Sympathisanten-Ecke manövriert hat. Dadurch bleiben zwar wenigstens die Reifen ganz (sagt man), andererseits möchte ich aber nicht, dass meine Familie vom Dorf in Sippenhaft genommen wird. Also vergessen Sie das ganz schnell wieder. Christlich! Im Eichsfeld! Diesem Trugschluss werde ich mich nach so vielen Jahren gewiss nicht mehr hingegeben …

Was bleibt also am Schluss? Ein Dorf, das so viel Gesprächsstoff hat, dass man kaum noch was über all die anderen Skandälchen mitbekommt. Ein Bahnhofshotel, das am 23. November zwangsgeräumt wird – da wird wohl ein Anhänger nicht reichen. Und ein jugendlicher Oberländer, der mit Morddrohungen gegen Kinder seinen Realitätsverlust offenbart.

Ich wünsche uns Lengenfeldern, dass wir es schaffen, über unsere eigenen Schatten zu springen und gemeinsam Herren der Lage werden. Denn schon im alten Tibet wusste man: „Angst klopft an die Tür, du öffnest mit Vertrauen und niemand ist da.“

Ihre
Maike Gierig