Lengenfelder Tagebuch von 1832 entdeckt
Einleitung
Die Geschichte […], die wir erzählen wollen, ist sehr lange her. Sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen. Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil. Denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener könnte man sagen, desto besser für sie. Die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, dass sie vor einer gewissen Leben und Bewusstsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt. Sie spielt in der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hatte.
Thomas Mann – in der Einleitung seines Romans "Der Zauberberg"
Es geschehen noch Zeichen und Wunder, liebe Leserinnen und Leser!
Voller Erstaunen halten wir es in unseren Händen – ein Lengenfelder Tagebuch aus dem Jahre 1832. Treffender als der deutsche Literaturnobelpreisträger Thomas Mann hätte man den Gehalt eines solch außergewöhnlichen Buches wohl nicht formulieren können.
Wie es zur Auffindung des Tagebuches kam und was uns in den Eintragungen überliefert wird, soll in diesem Beitrag geschildert werden.
Wie das Buch gefunden wurde
Während unserer Arbeit mit den verschiedenen Chroniken Lengenfelds stießen wir des Öfteren auf interessante und zugleich verwunderliche Zitate aus dem „Tagebuch des Joseph Hahn“. So entschlossen wir uns eines Tages, diesem Werk auf die Spur zu gehen. Anfangs ließ sich weder in Erfahrung bringen, wer Joseph Hahn war, noch, was es mit seinem Tagebuch auf sich hatte. Allerdings musste das Tagebuch noch bis in das letzte Jahrhundert existiert haben, da namhafte Lokalhistoriker und Chronisten wie Anton Fick und Walther Fuchs in ihren Arbeiten aus diesem Buch zitieren. Nach langer Recherche bekam das „HeimatStudio“ schließlich den heißen Tipp eines Lengenfelder Schlossherren, wonach sich das besagte Buch beim LCV-Mitglied Heinz Blankenburg befinden würde. Verwundert öffnete Herr Blankenburg die Tür. „Joseph Hahns Tagebuch? Nein, davon habe ich noch nie gehört. Dieses Buch besitze ich nicht.“ Im Gegenzug erstaunte Heinz Blankenburg jedoch mit einem sehr alten Rechnungs- bzw. Tagebuch der Familie Grundmann. Nun galt es, weiter zu suchen. Eine neue Spur führte zum Hof der Familie Hildebrand (Amtsschriebers). Hierbei war es eine glückliche Fügung, dass ein Redaktionsmitglied des „Lengenfelder Echos“ sehr gute Beziehungen zu dieser Familie pflegt. Bei einer Visite des besagten Hofes konnte ein sehr alter Koffer mit noch älteren Dokumenten ausfindig gemacht werden. Nach eingehender Untersuchung des Kofferinhalts war es dann am Abend des 29. März 2006 so weit – Stefan Hildebrand hatte das gesuchte Tagebuch gefunden und es befand sich zudem in einem erstaunlich guten Zustand. Sogleich konnten erste Nachforschungen über Herkunft und Inhalt des Buches angestellt werden. Dabei fand der junge Student heraus, dass seine Vorfahren Ernst Hildebrand und Pater Didymus bereits mit diesem Tagebuch gearbeitet hatten. Darüber hinaus klärten sich alle weiteren Fragen, die schon lange mit diesem Buch verknüpft waren.
Zur Bedeutung des Werkes
Die heimatliche Literatur gehört zum alten Kulturgut einer Landschaft. Sie gibt uns Einblick in das Leben, das Denken und Fühlen der Menschen, die dort lebten und lässt uns oft tiefer erkennen, was diese Menschen vergangener Jahrhunderte beschäftigte, als es die urkundlich fundierten Abhandlungen der Historiker tun.
Rudolf Linge, eichsfeldischer Autor
Der Schöpfer unseres Buches war der Lengenfelder Ziegeleibesitzer und Bauer Joseph Hahn, der in der Zeit von 1832 bis 1881 Tagebuch führte. Das unscheinbare Büchlein, das in Form und Größe einem katholischen Gesangbuch gleicht, ist in altdeutscher Handschrift verfasst, die heutzutage nur noch von wenigen Menschen lesbar ist. Überdies lassen sich diverse Eigenheiten der damaligen Schriftsprache in den Notizen ausmachen. So scheint es teilweise, als ob geschrieben wurde, wie man sprach (z.B. „Äbbel-Wein“). Dieser Eindruck kann dadurch begründet werden, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine große orthographische Verwirrung herrschte. Nicht nur, dass in jedem Fürstentum andere Regeln galten – sogar innerhalb von Schulen wurden von einzelnen Lehrern verschiedene Rechtschreibungen gepflegt (Brockhaus).
Allerdings weicht dieses Diarium von der Art herkömmlicher Tagebücher stark ab. Wer in den Notizen private Belange und familiäre Einblicke erwartet, liegt falsch. Der Lengenfelder Ziegeleibesitzer Joseph Hahn hat es sich vielmehr zur Aufgabe gemacht, alle Kuriositäten und Merkwürdigkeiten seiner näheren Heimat aufzuzeichnen (genannt sei hier etwa die Beschreibung von der Ausraubung des Klosters Zella durch die aufgebrachten Bürger von Struth und Effelder im Revolutionsjahr 1848). Somit ist dieses Tagebuch vielmehr als älteste Chronik Lengenfelds zu verstehen, die uns auch heute noch erhalten ist. Darüber hinaus repräsentieren die Aufzeichnungen Joseph Hahns eine tadellose Wetterchronik, welche uns außergewöhnliche Einblicke in die äußerst wechselvollen Launen der damaligen Natur gewährt.
Lese- und Textprobe
Abschließend sollen einige interessante Textstellen angeführt werden, die einen ersten Eindruck des Schreibstils und der vielseitigen Themen der Tagebuch-Eintragungen vermitteln.
1834
blühten Ende Januar die Blumen, ganz früh schon blühte das Obst; aber es gab keinen Rückschlag, sondern alles gedieh vorzüglich. Noch nie hatte es so viele Gottesgaben gegeben als in diesem Jahre.
1837
Vom 6.-10. April fiel so viel Schnee wie nie zuvor; und war eine solche Kälte, dass massenhaft die Vögel erfroren und vor Hunger starben; und am 18. April blieben die Wagen voll Mist noch im Schnee stecken.
1855
Familie Georg Hahn aus der Mittelmühle ist im Jahre 1855 den 12. Mertz nach Amerika ausgewandert. Es war damals sehr kalt und hatte hart gefroren.
1860
Am 3. Januar ist ein kleines Kind am Schlossberge in einer Buchenhecke tot gefunden worden; es hat dem kleinen Annemarie Hesse gehört in Lengenfeld.
1860
Den 16. Januar hat sich Christian Fuchs von hier in Joseph Hahn seinen Tannen auf dem kleinen Walberbühle aufgehenkt. Am 17. Januar ist er von Michel Ficks Sohn und von Anton Höppners Sohn gefunden worden. Hans Adam Wehenkels Sohn hat ihn nach Hause gefahren.
1865
Den 19., 20. und 21. März haben wir so eine große Kälte gehabt, dass alle Mühlen eingefroren waren und still standen und Grundeis im Wasser gefroren war. Auch lag hoher Schnee im Monat März. Aber Palmensonntag, den 9. April, fing das gude Wetter an, und der gantze Schnee ging weg, dass Oster Sondag kein Schnee mehr zu sehen war und die Felder standen in der schönsten grünen Aussicht, und die Sommer Bestellzeit ging sehr gut, und war schönes warmes Wetter.
1872
Joseph Rodekirch ist den 28. Mai 1872 in die Welt gezogen.
1872
Den 27. November des Abents war am Himmel so ein Stern Schnuppen (fall), dass ein jeder, der es sah meinde, die ganzen Sterne am Himmel fielen herunder auf die Erde. Hundertweise sah man sie den ganzen Abend herunder fallen was noch nie ein Mensch gesehen hat.
1879
den 8. September ist der Eisenbahnzug mit der Lokomotive das erste Mal mit Sand auf der Eisenbahnbrücke über das Dorf gefahren.
Anmerkung:
Zurzeit wird versucht, das Tagebuch vollständig in die heutige (Schrift-)Sprache zu übertragen. Nach Möglichkeit werden in den kommenden Ausgaben des „Lengenfelder Echos“ weitere Auszüge aus diesem einzigartigen Dokument folgen.