Mit der Kanonenbahn nach Effelder

Zunächst soll jeder Leser erfahren, warum die Eisenbahn, die von Leinefelde über Dingelstädt nach Geismar fährt, den eigenartigen Namen „Kanonenbahn“ führt. Den Namen trägt sie nun beinahe 75 Jahre, und er stammt aus jenen Zeiten, in denen man glaubte, dass der Krieg „der Vater aller Dinge“ sei und dass jede Friedenszeit vor allem wieder der Vorbereitung eines neuen Krieges dienen müsse.

Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich war 1871 beendet worden. Die Franzo­sen hatten 5 Milliarden Kriegskosten bezahlt. Dieses Geld wurde vor allem für die Durch­führung strategischer Pläne eines vielleicht bald zu erwartenden Krieges angelegt. U.a. sollte eine möglichst rasche Verbindung von Berlin zum Rhein geschaffen werden. Ein Teil dieser Bahn sollte durchs Eichsfeld gehen; es sollten vor allem Militärtransporte auf dieser Strecke durchgeführt werden. Die Eisenbahn Treysa – Leinefelde wurde 1877 bis 1879 gebaut. Der Bau der Strecke, die durch das Eichsfeld führt, wurde zu einem kost­spieligen Unternehmen. Es mussten Höhenzüge überwunden, Flussläufe und Täler überbrückt werden. Allein auf der 18 km langen Strecke von Küllstedt bis Geismar war man genötigt, 5 Tunnel zu bauen. Bei Lengenfeld unterm Stein musste man auf mächtigen Pfeilern die Eisenbahn in schwindelnder Höhe hoch über die Häuser des Dorfes hin­weglegen. Tausende von Werkleuten – namentlich italienische Wanderarbeiter – voll­brachten das Werk, die Eisenbahn wurde 1879 in Betrieb genommen. Die Eichsfelder hatten der Bahn bald den Namen „Kanonenbahn“ gegeben.

Nach dem langen Vorwort kann ich endlich die Fahrt nach Effelder antreten. An der Haltestelle Kefferhausen will ich in den Zug einsteigen. Aber da ist zunächst ein Hinder­nis. Aus dem Abteil, in das ich einsteigen will, fliegen in rhythmischer Folge durch die offene Tür allerlei Dinge: Päckchen, Pakete, Handtaschen, Schirm, Stock und mehr her­aus. Jeder Gegenstand wird von einem aufgeregten Reisenden mit hoher Fistelstimme laut mit einer Nummer bedacht und draußen wartenden Kindern zugeworfen. Und so geht es: „1 – 2 – 3 – 4“. Bei Nummer 7 fliegt mir plötzlich eine Hutschachtel an den Kopf. Ich erschrecke und mucke auf: „Was fällt Ihnen denn ein?“ Und er ruft weiter: „8 – 9 – 10 –11.“ Dann spricht er freudig bewegt aus dem Zug: „Und jetzt kommt Nr. 12; das bin ich selbst. Guten Tag Kinder!" Und mir zugewandt ruft er noch einmal: „Zum Kuckuck!“ Der Mann war sichtlich erfreut, dass er von der langen Reise alles mit heimgebracht hatte.

Ich brummte etwas von Unverschämtheit und kletterte in den Zug. Die Lokomotive ruck­te an, jagte puffend schwarzen Rauch in die Luft, und das Züglein rollte ab. Da kam der Kuckucksrufer in Hast gelaufen, sprang auf das Trittbett des fahrenden Zuges und schrie ängstlich und beschwörend: „Mein Hut, mein schwarzer Hut!“ Da war also die richtige „Nummer 12“ doch im Zug liegengeblieben. Die Fahrgäste beeilten sich, reichten ihm „Nr. 12“, eine schwarze Dohle, durch das Fenster, und ein Schelm rief: „Zum Kuckuck!“ Aber der Zug fuhr bereits in mäßigem Tempo und der nervöse Kuckuck hatte nicht mehr den Mut abzuspringen. Er hielt sich krampfhaft an der Wagentür fest und fuhr als blin­der Passagier mit in Richtung Küllstedt. Als der Zug sich der hohen Brücke näherte, die bei Kefferhausen über die Unstrut gespannt wurde, griff der Luftzug des fahrenden Zu­ges nach der „Dohle“, hob sie hoch in die Luft und jagte sie über das Steingeländer der Brücke ins Tal. In diesem Augenblick fingen die Räder des Zuges an zu kreischen; die Lokomotive bremste, der Zug hielt an, das lästige Anhängsel loszuwerden. Der „Kukuck" sprang ab und unter Fluchen und „Donnerwettern“ aller Eisenbahnbediensteten trottete er zu seinen elf Sachen an der Haltestelle zurück.

Unser Züglein aber rollte mit seinen vier Personenwagen schnell durch den tiefen Ein­schnitt am „Lohberg“, über die Brücke beim „Pfingstrasen“, über die „Melmen“, über die „Mertelbrücke“ hin gen Küllstedt.

In Küllstedt stiegen zwei Jungen ein, die sich gleich ans Fenster drängten. Als der Zug über die hohe Brücke bei Büttstedt fuhr, meinte der Kleine: „Wenn hier d‘r Zog mol immekeppelt, do sin me alle musekratentöt (mausetot).“ Meinte der große Junge: „Ach, so lichte keppelt d‘r Zog nit imme; aber wenn ar bi Stänlängefeld äwer die Hisser wagsust, do ha ich äu immer Angest.“

Gleich hinter der Brücke tut sich das erste schwarze Tor auf. Wir fahren in den 1350 m langen Küllstedter Tunnel. Nun sitzt man im Dunkeln, es rauscht und braust und dröhnt. Die Reisenden sind still geworden. Drei Minuten lang geht‘s durch die dunkle Erde. Aber gleich hinter dem „Großen Tunnel“ tut sich eine neue Welt auf. So kahl und einsei­tig die Höhe war, so abwechslungsreich und anmutig wird jetzt die Landschaft. Das Bähnlein jagt am steilen Berghang dahin, es fährt rasch; denn es geht bergab. Man hat viele Muschelkalkfelsen sprengen müssen, bis der Weg so breit war, dass man ein Schienen­paar legen konnte. Wir fahren durchs „Hübental“. Hier ist es so romantisch und herrlich, als fahre man nicht im Eichsfeld, sondern quer durch den Thüringer Wald oder im Harz. Die Reisenden treten dann wohl ans Fenster, bewundern die schöne Gegend, sind entzückt und sagen: „Wer hätte auf dem Eichsfeld solche Schönheiten vermutet!“

Das Tal ist eng. Unter uns grünen frische Buchen und stehen malerische Gruppen finste­rer Tannen. Bald wird der Blick freier, und du kannst hineinschauen in den „Stein­graben“, den „Küllstedter Grund“. Unten am Fuß des Berges, da sprudelt es silberhell. Frische Quellen, die „Neun Börner“, springen rasch über die Feldsteine, vereinigen sich zu einem Bach und eilen und brausen schnell, wie es in Gebirgen so üblich ist, der Lutter zu. Hier unten, wo der „Ölstieg“ durch dunkle Tannen aufwärts führt, ist auch die Stelle, wo nach altem Volksglauben der Teufel in schwarzer stürmischer Nacht verzweifelten Schatzgräbern das rote Gold der Sonne zeigt. So wunderschön es hier am Tage ist, so schaurig wird‘s zur Nachtzeit sein.

Franz Huhnstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe unbekannt)