Zur Keudelskuppe (1927)

„Sei mir gegrüßt, mein Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel!
Sei mir Sonne gegrüßt, die ihn so lieblich bescheinet!“

singt Schiller als Einleitung zu seinem unsterblichen „Spaziergang“. Wie selten ein anderer Berg gibt uns gerade die trotzige Keudelskuppe mit der Plesse eine räumliche Darstellung dieser Meisterverse. Hoch wuchtet sie aus dem lieblichen Werratal empor, um in stolzer Ruhe die Umgebung zu beherrschen. Von mehreren Seiten sind schöne, bequeme und auch steile Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden. Der eindrucksvollste Weg führt von Lengenfeld u. St. (Bahnhofsstation) über Hildebrandshausen und die Plesse oder durch das Junkersholz. Es ist dies zwar ein ziemlicher Umweg, aber die Natur entschädigt den Wanderer in kaum geahnter Weise. Durch das Rosebachtal gelangt man von Lengenfeld nach Hildebrandshausen, das eines der schmucksten Dörfer des Eichsfeldes ist. In der Mitte des Dorfes befindet sich ein großer Anger mit mächtiger Linde, der man leider die Äste sehr gestutzt hat. Ganz in der Nähe steht die Kirche, die in romanischem Stil mit gotischem Turm erbaut ist. Unter tatkräftiger Leitung des derzeitigen Pfarrers Hornemann hat das Innere der Kirche vor etwa zwei Jahren eine treffliche Ausstattung erhalten. Bemerkenswert ist besonders das große Wandgemälde über dem Chor und die Apostelköpfe an den Längswänden, die von der Hand des Kunstmalers Willy Jakob stammen.

Von hier führt der Weg durch den sog. „Grund“ aufwärts zur Plesse. Schattiger Buchenwald rauscht uns ein freundliches Willkommen entgegen. Doch ehe wir der Einladung Folge leisten, nimmt uns noch einmal die prächtige Aussicht auf Hildebrandshausen gefangen. In einem engen Tal lugen die Häuser wie aus einem großen Obstgarten. Linker Hand wird der Blick durch den Burgberg bei Lengenfeld mit dem Schlosse Bischofsstein begrenzt. Gegenüber steigt die Felsenwand des Dünberges empor, und rechts grüßt der altersgraue Turm der ehemaligen Kirche in Katharinenberg herunter. Abschied winken wir dem traulichen Bild, dann schreiten wir weiter dem Aussichtsturm auf der Plesse zu. Manchen Schweißtropfen fordert die steile Treppe des Turmes. Doch unverdrossen hinauf, es lohnt die Mühe. Aus luftiger Höhe sehen wir einen der schönsten Teile des Werratales zu unseren Füßen liegen. Tief unten breitet sich Wanfried aus, das durch ein silbernes Band mit dem fernen Eschwege verbunden scheint. In dieser Richtung schweift der Blick bis zum Meißnermassiv, während auf der anderen bei klarem Wetter der Inselsberg und geradeaus Teile des Röhngebirges sichtbar werden. Nördlich haben wir unser heutiges Ziel, die Keudelskuppe vor Augen. Dahinter ragt der alte Stuffsoberg, Hülfensberg, wie er später genannt wurde, empor. Fest prägen wir unserem Gedächtnis das herrliche Bild ein.

Wieder kommt uns hier Schillers „Spaziergang" in den Sinn, denn wie in ihm führte der Weg bisher durch einen blumigen Wiesengrund, durch einen schattigen Buchenwald hierher, und

„… plötzlich zerreißt der Flor. Der geöffnete Wald gibt überraschend des Tages blendendem Glanz mich zurück. Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne, Und ein blaues Gebirg, endigt im Dufte die Welt.“

Doch noch weiter begleitet uns Schiller auf unserem Wege:

„Abschüssige Gründe hemmen mit gähnender Kluft hinter mir, vor mir den Schritt.“

Staunend stehen wir vor dem sog. Erdfall und sehen das unergründliche Walten der Natur.

Noch eine andere Sehenswürdigkeit möchte nicht unerwähnt bleiben. Gemeint sind die „Taterlöcher“. Das sind mächtige Felsenhöhlen, denen der Volksmund diesen romantischen Namen verlieh. Von ihnen geht die Sage, dass man hier einst einen Hund in den Abgrund geworfen habe, der bei Wanfried wieder aus dem Inneren ans Tageslicht gekommen sei.

Zum letzten Abschnitt des Weges sind wir gekommen. In 20 Minuten gelangt man von hier auf fast ebenem Bergrücken zur Keudelskuppe. Ein kurzer Anstieg, und wir haben unser Ziel erreicht. Graue Vorzeit rankt sich um das alte, zerfallene Mauerwerk. Wir werden in die unruhigen Zeiten des 13. Jahrhunderts versetzt.

Leise trägt ein lauer Wind Glockengeläute vom nahen Hülfensberg herüber und lenkt unsere Aufmerksamkeit der Umgebung zu. Vom Fuße der Keudelskuppe schaut der Keudelstein herauf, den B. von Keudel 1552 erbaute. Hier weilte im Sommer der Bekennerbischof Dr. Konrad Martin, dessen Anverwandten der Keudelstein einige Jahrzehnte gehörte.

Jetzt mischt sich ein neuer Glockenton in das Geläut vom Hülfensberg. Döringsdorf, am Fuße des Eichsfelder Nationalheiligtumes sendet seinen Gruß herauf, und „Ave Maria“ tönt leise von fern her die Glocke der Effelderkirche.

Länger und länger werden die Schatten der Bäume, und erstaunt sehen wir die liebe Sonne schon tief im Westen dem fernen Meere zueilen. Da trennen auch wir uns von der liebgewordenen Bergeskuppe. Eines aber wissen wir: Lächelt Ihr draußen im Reich über unser armes Eichsfeld, schön ist es doch, und vom Schönsten haben wir heute ein Teil bekommen und lieben gelernt.       

Albert Grundmann
(Quelle: „Eichsfeldia, Mitteldeutsche Volkszeitung“, Nr. 132, Zweites Blatt, Ausgabe vom 03.06.1927)