Rasante Entwicklung der letzten 70 Jahre fordert ihren Tribut

Wenn ich persönlich an meine Kindheit vor 70 Jahren zurück blicke, so muss ich positiv feststellen, welch enorme Entwicklung inzwischen auch in dem kleinsten Dorf Einzug gehalten hat.

Überlegen wir einmal, was wir damals in unseren dörflichen Haushalten – oft kinderreich – noch nicht hatten. Und das deshalb, weil es zum Teil noch gar nicht entwickelt und noch nicht auf dem Markt war. Und wenn doch, hätten wir es aus Geldmangel nicht bezahlen können.

Wer hatte schon elektrische Waschmaschine, Kühlschrank, Radio, Fernseher, Telefon, Innentoilette, Bad, Dusche, Elektroherd, Computer, Internet, Spülmaschine, Funkuhr u.v.a.m. Fast jedes Kind besitzt heute ein hochmodernes Fahrrad, Mobiltelefon, Radio usw. Wird ein Jugendlicher 18 Jahre alt, hat er ein Auto (schon berufs- und ausbildungsbedingt). Welches Kind vom Dorf konnte ein Gymnasium besuchen, gar einen Schüleraustausch in Amerika oder England wahrnehmen? Heute verlebt jeder zweite Deutsche seinen Urlaub im Ausland.

So könnte man fortfahren und noch verschiedene Beispiele anführen. Eine rasante Entwicklung in unserem Land, aber auch in unseren Dörfern.

Wenn unsere Großeltern plötzlich wieder unter uns weilten, sie würden dieses stürmische Zeitalter – zwei Generationen später – nicht verstehen. Wenn wir ehrlich sind, oft kein Wunder, dass das Geldsäckel manchmal nicht mehr reicht.

Oder schauen wir uns die Entwicklung nach der Wende im kommunalen Bereich an: Früher hatte das kleinste Dorf einen hauptamtlichen Bürgermeister. Seit zehn Jahren haben wir Verwaltungsgemeinschaften, wo verwaltungstechnische und finanzielle Probleme angeblich besser gelöst werden. Gemeinden, selbst in der Größenordnung Lengenfeld unterm Steins haben einen ehrenamtlichen Bürgermeister. Möglichst einen Rentner, der für sein Ehrenamt viel Freizeit opfern kann. Kleine Dörfer von Einheitsgemeinden haben einen so genannten Ortsbürgermeister im Ehrenamt. Diese Beispiele könnte man fortsetzen.

Schauen wir uns um, in Wirtschaft, Banken, Versicherungen usw.: überall Konzentration zu Großbetrieben, Supermärkten und Warenhäusern an Gewinn versprechen Standorten. Zu meiner Kindheit waren in jedem Dorf verschiedene „Tante Emma-Läden“, und dort kauften unsere Eltern ein.

Denken wir daran: zu dieser Zeit buk fast jede Hausfrau ihr Bauernbrot in der örtlichen Bäckerei. Bei unserem neunköpfigen Haushalt waren dies jede Woche acht bis zehn Brote. Jeder Dorfbewohner hatte seinen eigenen Garten und war somit Gemüseselbstversorger. Obstbäume an Landstraßen und Feldwegen wurden von den Kommunen jährlich verpachtet.

Heute sind in den öffentlichen Zentren – wie Struth und Geismar – Supermärkte, wo man aber auch alles, was zum Leben nötig ist, kaufen kann. Kommen Sie zum Wochenende zum Struther Edeka, so treffen Sie dort viele Ihrer Lengenfelder Landsleute. Also hat unsere kleine Welt auch auf diesem Gebiet eine rasante Entwicklung genommen. Leider auch manchmal zum Nachteil der örtlicher Gewerbetreibender.

Und so kann man den Bogen, auch was Veränderungen betrifft, zu unserem kirchlichen Bereich spannen. Wer auch hier die Entwicklung aufmerksam verfolgt hat, wird feststellen, dass Veränderungen sei Jahren vorprogrammiert waren. Denke ich an meine Kindheit in Struth zurück: Zwei meiner Brüder und ich waren Messdiener. Musste unser Pfarrer zum nächtlichen Versehgang eines kranken, so waren wir als zwei begleitende Messdiener immer gefragt, da wir direkt an bei der Kirche wohnten.

An jedem Herz-Jesu-Freitag wurden alle Kranken des Dorfs durch den Priester besucht, immer begleitet von zwei Messdienern. Hätten wir uns zu dieser Zeit einen Kommunionhelfer vorstellen können? Weder männlich noch weiblich. Oder dass unsere Messdienerschar inzwischen durch Messdienerinnen verstärkt wurde. Als wir damals als Messdiener die Messgebete auf Latein auswendig lernen mussten, jedoch nicht wussten, wie es auf Deutsch heißt – ja sogar der Priester die Heilige Messe auf Latein zelebrierte. Darüber, für welches Brautpaar ein Brautamt zugelassen war und für welches nicht, möchte ich gar nicht reden.

Die Handkommunion, wie sie seit Jahrzehnten praktiziert wird, war zu unserer Kindheit gar nicht denkbar.

Oder denken wir an unseren verehrten, langjährigen Pfarrer Pater Florentin zurück: Die Disziplinierungen waren zu jener Zeit noch recht und gut. Könnte man sie heute noch gegenüber unseren Kindern und Jugendlichen anwenden? Kaum. Die von mir aufgeworfenen Fragen möge sich, was solche Veränderungen betrifft, jeder selbst beantworten.

Und wer die Entwicklung in unseren deutschen Bistümern – auch im Bistum Erfurt – mit Interesse und offenen Augen verfolgt hat, wird festgestellt haben, dass die jährlichen Priesterweihen in den letzten Jahren immer weniger wurden. Schauen Sie heute in die Schar unserer Eichsfelder Priester, so werden Sie erkennen, dass in den nächsten Jahren einige alterbedingte Ausscheidungen nicht ausbleiben werden. Und was ist die logische Folge? Die bisher bestehenden kleinen Pfarreien können künftig nicht mehr mit einer eigenen Pfarrstelle besetzt werden.

Dieser Fall ist nun seit Ende Juli in unseren drei Pfarrgemeinden, Faulungen, Hildebrandshausen und Lengenfeld, akut. Unser Pfarrer Lothar Förster hat uns im Sonntagsgottesdienst auf diese anstehenden Veränderungen aufmerksam gemacht. Pfarrer Alker, für Faulungen und Hildebrandshausen zuständig, tritt ab dem nächsten Jahr aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand. Nun tritt der Zustand ein, der seit Jahren vorprogrammiert und absehbar war.

Vor einiger Zeit hat unser Bischof Joachim Wanke im „Tag des Herrn“ auf die kommenden Veränderungen in unserer Pfarrgemeinden aufmerksam gemacht. So ist es amtlich: Unser Pfarrer Lothar Förster ist ab Januar 2005 für alle drei Pfarrgemeinden zuständig! Hier und da schlagen nun die Wogen hoch mit den Fragen: „Warum so und nicht so?“, „Warum in Lengenfeld keine zwei Gottesdienste mehr?“

Ja, wir Lengenfelder müssen nun einen Priester brüderlich mit unseren Mitbrüdern und -schwestern in unseren Nachbardörfern teilen. In Diasporagemeinden ist dies seit Jahrzehnten schon gängige Praxis. So möchte ich aber auch daran erinnern, dass unsere bisherige Vorabendmesse auch oft von Struther oder Hildebrandshäuser Gläubigen besucht wurde.

Wer, Gott Dank, wie ich persönlich und viele andere durch ein Auto mobil ist, wird durchaus, wenn erforderlich, mal die Vorabendmesse in Faulungen oder Hildebrandshausen besuchen. Teils fährt  man auch nach Faulungen zum Bäcker und Frisör. Viele von uns haben in Faulungen und Hildebrandshausen Freunde oder Bekannte wohnen. So kann ich mir durchaus ein Zusammenwachsen der Menschen in unseren drei Gemeinden vorstellen. Ein schönes Beispiel hierfür sind doch die jährlichen Bitttage. In der Diaspora und in den Stadtgemeinden ist es üblich, dass man sich nach dem Sonntagsgottesdienst zu einem kleinen Plausch vor der Kirche zusammenfindet.

Denken wir also positiv und erleichtern uns mit dem Überwinden der anfänglichen Hürde der Veränderung ein Zusammenwachsen. man sollte sich auch nicht scheuen, die nicht mobile Frau Nachbarin, wenn erforderlich, zur Vorabendmesse ins Nachbardorf mitzunehmen. Sicherlich wird nicht jeder meine dargelegte Meinung teilen, doch damit muss man leben, wenn man öffentlich – und nicht im stillen Kämmerlein publiziert.

Ihr

Willi Tasch

PS: Schmunzelnde Feststellung: Vor einigen Jahren machten wir mit Pfarrer Lothar Förster eine Gemeindefahrt nach Rheinfelden-Karsau. Dort besuchten wir auch den Sonntagsgottesdienst. Eine ganz neue, moderne Kirche – vor fünf Jahren gebaut – präsentierte sich da. Nach dem Gottesdienst fragte ich den Küster: Wie viele Gläubige hat ihre Kirchengemeinde? Und er nannte mir die Anzahl der Gläubigen und fügte scherzhaft hinzu: „Wenn sie alle rein gehen, gehen sie nicht alle rein. Wenn sie nicht alle rein gehen, gehen sie alle rein.“ Und bei uns würden sie auch alle rein gehen …

(Quelle: „Lengenfelder Echo“, Oktober-Ausgabe 2004)