Als die Kanonenbahn gebaut wurde

Während der langen Wintermonate hat der Westerwald Ruhe. Nur Holzhauer verursachen mit Axt und Säge den gewohnten Lärm. Der Widerhall des Motorengebells berichtet über die Abfuhr gefällter Baumriesen. Wenn aber der letzte Schnee sich in die Schluchten zurückgezogen hat, erscheinen Kinder und am Sonntag auch Erwachsene aus Küllstedt, Wachstedt, Effelder und Großbartloff, um nach Frühlingsblumen Ausschau zu halten. Bussarde umkreisen ihren alten Horst. Vielleicht werden bei der wachsenden Unruhe die auch hier oben zur Plage gewordenen Wildschweine und die zu einer Gastrolle erschienenen Hirsche flüchtig. Das alte Ausflugs- und Wanderziel, der liebe Westerwald, entfaltet wieder seine großen Reize. Eltern erzählen ihren Kindern, was sie selbst von den Großeltern hörten.

Von Zeit zu Zeit ist der Wald vom dumpfen Rollen eines Eisenbahnzuges erfüllt, der in einen der nahen Tunnel fährt. Wer über dem Küllstedter Grunde steht, wenn eine Lokomotive auf dem Effelderschen Bahnhof verschnauft, macht sich Gedanken über den Höhenunterschied zwischen der Station und dem darüber gelegenen Dorf. Durch eine Schneise hat soeben der hohe Kirchturm herabgegrüßt.

Schwer, sehr schwer muss es gewesen sein, diesen Bahnbau zustande zu bringen. Die Linie verlief ja so ganz anders, als die Herren von der Handelskammer Mühlhausen sie sich gedacht hatten. Aber sie sollte ja wohl auch eine „strategische“ Bahn werden. Ihr volkstümlicher Name deutet heute hoch darauf hin. Im Februar 1875 begannen die Vorarbeiten. Alles Material musste mit Gespannfuhrwerk herangeschafft werden. Pferde- und Ochsen-Wagen waren ständig unterwegs. Arbeiter aus Italien, Galizien und Kroatien, hielten ihren Einzug in die Dörfer an der Strecke. In das ruhige Leben kam Bewegung. Weil gelegentlich gezecht wurde, blieben unliebsame Zwischenfälle nicht aus. Mehr als einmal ist es zu blutigen Schlägereien gekommen und oft hat die Gendarmerie die Ruhe herstellen müssen.

Mit den einfachen Geräten der damaligen Zeit, mit Hacke und Schippe, mussten große Erdmassen losgemacht werden. Auf primitiven Karren wurden sie bewegt. Die Erdarbeiten waren in verschiedenen Losen vergeben worden, sodass an dem tiefen Einschnitt unterhalb des Bahnhofes Silberhausen und den nötigen Dämmen gleichzeitig gearbeitet werden konnte.

Auch die Arbeit an den fünf Tunnels wurde gleichzeitig in Angriff genommen. Die Schächte wurden aus beiden Richtungen gleichzeitig vorgetrieben. Besondere Vorsichtsmaßnahmen mussten im Muschelkalk angewandt werden, um der Einsturzgefahr zu begegnen.

Der zwölfhundert Meter lange Schwebdaer Tunnel ist dennoch der Schauplatz erregender Szenen gewesen. Die Rettungsmannschaften mussten sich von beiden Seiten an die Einsturzstelle heranarbeiten. Eines Tages lösten sich Erdmassen, und verschütteten Arbeiter und Pferde. Durch einen entstandenen Spalt wurde ihnen solange Futter und Wasser gebracht, bis Hacke und Schippe auch sie befreiten. Die Tiere waren anfangs sehr scheu und schlugen aus, wenn sich in ihrer Nähe etwas regte. Die Tunnel – besonders der kilometerlange zwischen Küllstedt und Effelder – haben später infolge unausbleiblicher Wetterschäden oft erhebliche Reparaturen erfordert.

Das Friedatal konnte bei Lengenfeld nur durch eine Schleife und eine lange Brüche, die über das Dorf führt, überquert werden. Man hatte daran gedacht, bis an Faulungen heranzugehen. Dreimal wurde vermessen, dreimal abgesteckt. Schließlich entschieden sich die Ingenieure für den Viadukt. Zu den hohen Brücken bei Kefferhausen, Büttstedt und Frieda kam die noch größere Lengenfelder …

Diese wenigen Angaben lassen schon erkennen, wie viele Schwierigkeiten zu überwinden waren. Allein an dem Damm östlich, und westlich der Friedaer Brücke wurde vier Jahre rastlos geschafft. Arbeiter und Gespanne verdienten mehr als man damals auf dem Eichsfelde gewohnt war. Für ein Pferdegespann gab es pro Tag 17 Mark. Manche Pferdehalter an der Strecke haben in jenen Jahren einen gewissen Wohlstand begründet.

Am 15. Mai 1880 wurde die neue Bahn dem Verkehr übergeben. Ältere Leute konnten sich anfangs nicht entschließen, einen Zug zu benutzen. Das Fahren durch die Erde, über die hohen Brücken und Dämme schien doch recht gefährlich zu sein. So warteten sie ab und gingen nach wie vor zu Fuß, oder sie bedienten sich bei weiteren Wegen, etwa nach Heiligenstadt, noch des erprobten Rollwagens. Erst allmählich gewannen sie Vertrauen. Siebzehn Millionen Mark soll die „Kanonenbahn“ gekostet haben. Ihren Zweck, die Hauptstrecken zu entlasten, hat sie von Anfang an erfüllt. Sie hat auch einen beträchtlichen Teil des Eichsfeldes dem Verkehr erschlossen. Die berührten Orte der Höhe, das Friedatal und die schöne Umgebung des Hülfensberges haben viel gewonnen.

Autor: unbekannt
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“ vom 6. April 1957)