Dürre und Wassernot auf der Eichsfelder Höhe - Späte Erinnerungen an das „Sonnenjahr“ 1911

Einen Sommer mit mehr Sonnenschein, blauendem Himmel und herrlichen Tagen als den vom Jahre 1911 hat noch niemand im ganzen lieben Vaterlande erlebt, auch die ältesten unter uns nicht. Das war in der Tat ein rechtes „Sonnenjahr“, unver­gesslich für jeden, dem es einst beschert wurde. Man würde sich des Jahres wohl gern und froh erinnern, wenn 1911 sich nicht zugleich auch als ein so verderbliches Notjahr erwiesen hätte. Denn es war so regenarm und trocken wie kein ande­res vor ihm und nach ihm.

Schon der April brachte sommerliche Wärme und von da an löste ein Son­nentag den anderen ab. Der Himmel war stets klar und rein. Aufkommende Gewit­terwolken wurden, noch ehe sie sich ver­einigen konnten, von herfahrenden Winden immer rasch gepackt und fortgefegt, zumeist schon, ehe noch ein Tropfen Re­gen gefallen war. Nebel, die morgens in Tälern und Gründen brauten, flohen vor der aufsteigenden Sonne wie Gespenster davon. Immerfort brütete eine drückende Hitze im Lande, davon die Erde völlig aus­dorrte. Da versiegten nun allgemach die Quellen; die Bäche trockneten aus oder wurden doch bescheidene Rinnsale, die so schwach waren, dass sie die Mühlräder nicht mehr drehen konnten. – Draußen, in Feld und Wald, war große Not; jegliche Krea­tur litt unter der immerwährenden, uner­träglichen Hitze, suchte Kühlung und schmachtete nach Wasser. – Bäume, die ihre Wurzeln in steinigem Erdreich hatten, ließen die Blätter welken, starben manch­mal auch völlig ab. – Die Feldfrüchte, ohne Unterlass der sengenden Hitze aus­gesetzt, stellten auf mageren Böden das Wachstum bald ein, wurden dann gelb und vertrockneten am Ende ganz.

Das war ein gar böses Jahr insbesondere für den Landmann. Arbeit und Mühe an den Feldern waren umsonst vertan. Und wenn der Bauer sonst im Erntemond hochaufgestapelte Fuder in seine Scheune heimgebracht hatte, so war er in diesem Notjahr schon zufrieden, wenn er wenig­stens eine „Schicht“ Garben auf den Lei­terwagen laden durfte. Manchmal konnte man den Ertrag eines ganzen Ackers auf einem Handwagen heimfahren. Klee- und Heuernte waren kläglich, eine Grummet­ernte gab es nicht. Man sah im Hochsom­mer nur „verbrannte“ Wiesen und ver­trocknete Kleefelder in den Fluren. – Die Kar­toffeln starben früh ab, waren zumeist nicht größer als „Schösse“, und wenn auf einem Morgen zehn Sack geerntet wurden, so be­neidete man den Bauern wohl ob des hohen Ernteertrages; nur wenige ernteten so viel.

Ganz so trostlos, wie hier geschildert, war es wohl nun nicht überall im weiten Va­terlande; aber in Gegenden mit dürftiger Ackerkrume, insbesondere auch auf den armen Muschelkalkböden – wie auf un­serem Eichsfeld – da hatte die endlose Trockenheit geradezu katastrophale Aus­wirkungen. – Denn zu der verderblichen Dürre und dem erschreckenden Misswachs auf den Feldern kam hier obendrein noch als neue Misere ein unvorstellbarer Wassermangel. – Jeder Eichsfelder, der die Drangsal damals durchkosten musste, wird die Notzeit nie vergessen, sie hat sich mit ihren Beschwernissen tief in seinem Gedächtnis eingegraben; es ist also nicht not, sie ihm jetzt – nach 46 Jahren – noch besonders in Erinnerung zu bringen. Doch der Generation von heute, der will ich sie darstellen, sie soll von der Not und Müh­sal von damals erfahren, damit sie erkennt, wie Schweres ihre Vorfahren einst ertra­gen mussten, aber auch, wie die Väter dem Schicksal die Stirn boten und wie sie mit der Plage fertig wurden.

Not und Kampf um das Wasser waren besonders groß und schwer bei den Men­schen auf der „Eichsfelder Höhe“ da oben, wo auf dem breiten Muschelkalkrücken Wachstedt, Küllstedt, Effelder und Struth liegen. In einem dieser Höhendörfer – ich meine Effelder – habe ich die Notzeit da­mals selbst durchstehen müssen. Ich will mich drum hier auch in der Darstellung beschränken und im Folgenden nur auf­zeigen, wie das mit dem Wassermangel damals in Effelder war.

Der Ort, in fast 500 m Höhe, hat nie Überfluss an Wasser gehabt. Die einzige Quelle, die da oben an der Berglehne zu­tage tritt und die sicher auch die Ursache für die Gründung der Siedlung auf dem dürftigen Plateau überhaupt war, wurde schon vor vielen hundert Jahren einge­fasst und später sogar mit einem Hause überbaut, warum sie denn von allen nur der „Kellerborn“ genannt wird. Dieser Quell ist, solange das Dorf steht, dessen größter Wohltäter gewesen. An ihm holten alle Bewohner das frische Wasser. Erst später, als der Born der wachsenden Zahl der Menschen nicht mehr Genüge tat, grub man hier und da zusätzlich noch Brunnen; und in dem Jahre, von dem hier die Rede ist, waren es deren neun. Aber keiner von ihnen hatte so köstliches Wasser wie der alte „Kellerborn“, und in „trockenen“ Jah­ren versiegten sie fast alle. – Es war da wohl in der Nähe des Ortes auch noch ein bescheidenes Schichtquellchen, welches es in „dürren“ Jahren oftmals länger aus­hielt als die Brunnen im Dorf und das den sonderbaren Namen „Sumpf“ führte. Viel hatte aber dieses Börnchen nicht abzuge­ben. – Sonst war für die große Gemeinde – Effelder zählte um 1900 schon rund 1400 Einwohner – kein Wasser weiter da, es sei denn, man hätte es unten in den tiefen Tälern an den „Neun Börnern“, an der Lutter oder im „Rottenbach“ geholt.

Als 1911 mit seiner Trockenheit kam, fingen die Dorfbrunnen bald alle an zu streiken, einer nach dem anderen, und zu­letzt gab keiner von ihnen mehr Wasser, nur der alte treue „Kellerborn“ gluckste noch weiter und tat sein Bestes. Zu diesem Ret­ter in der Not strömte nun alles hin. Es bildeten sich bald „Schlangen“ von Men­schen, die sein Wasser begehrten, und man musste sich in Geduld fassen, bis man an dem umlagerten Brunnen endlich an die Reihe kam. Es gab da oft Zank, Streit und hysterisches Geschrei, manchmal auch Knuffe und Puffe, alles um einen Eimer Wasser. – Am Ende aber vermochte auch dieser Born, dessen Ergiebigkeit sich mäh­lich erschöpfte, der „Nachfrage“ nicht mehr zu genügen.

Da setzte nun die Wanderung zu den fernen Bächen ein. Die Bauern spannten an, und Tag für Tag fuhren Wagen mit Fässern und Gelten, mit Kübeln und Büt­ten, gleich Karawanen, in den Luttergrund, da unten für Mensch und Vieh Wasser zu schöpfen. Das war überaus zeitraubend, mühsam und umständlich; denn du musst bedenken, dass von der Wasserstelle im Grunde bis oben auf die Höhe jedes Mal eine Steigung von fast 200 m überwunden werden musste. – Gutes Trinkwasser suchte man wohl auch an der Rottenbach­quelle und manch älterem Bewohner von Effelder wird jetzt vielleicht einfallen, wie man ihm als Jungen, so von 13 Jahren, daheim Tag für Tag ein „Joch“ auflud, an dessen Ketten zwei Eimer hingen, und ihn damit an den Rottenbach, schickte, dort Wasser zu holen. Das war bei dem versie­genden Quellchen nicht leicht; man musste mit einem Töpfchen den dünnen Wasser­strahl auffangen und so lange schöpfen, bis endlich die Eimer mit dem begehrten Wasser gefüllt waren. Wenn man dann endlich das kostbare Nass heimtragen konnte, war man hochbeglückt. Aber was war das eine schwere Last! Denk an: der Quell war 2000 m weit, es ging mehr als 100 m tief hinunter in den Wald, der Weg voller Unebenheiten mit Steinen bestreut und von Wurzelwerk durchzogen; den „Kuhweg“ hinan war es so steil, wie wenn man ein Dach hinaufsteigt. – Ich denke noch gern daran, wie ich einmal einem er­schöpften Schuljungen da an dem Hang das Joch mit den gefüllten Eimern ab­nahm, es auf meine Schultern legte und ich für ihn dann das Wasser auf die Höhe trug. Heute noch, nach so vielen Jahren freue ich mich über meinen bescheidenen Liebesdienst von damals.

Seht, so wirkte sich die schreckliche Trockenheit damals in Effelder aus, und so groß waren die Opfer und Strapazen, die den Bewohnern in dieser Notzeit auf­gebürdet wurden. — Ähnlich war es in allen Bergdörfern, nicht bloß in denen auf der „Höhe“, sondern auch in jenen auf dem Dün, auf dem Ohmberge und ander­wärts im Eichsfeld. Und wenn ich in jener Zeit manchmal vom „Rain“ über die Berg­welt hinschaute und dabei Beberstedt auf dem Dün immer so breit liegen sah, kam es mir stets in den Sinn: „Wie mögen wohl die Leute da drüben mit der Wassernot fertig werden?“ Denn ich wusste, dass Beberstedt nur einen einzigen tiefen Brun­nen hatte, der einigermaßen zuverlässig war. – Obwohl die Menschen allerorts unter der endlosen Trockenheit zu leiden hatten, so verloren sie doch den Mut nicht und nährten alle eine unverwüstliche Hoff­nung auf baldige Erlösung von der Drangsal. Ja, manche versuchten sogar, sich mit Humor über die Verdrießlichkeiten hin­wegzusetzen, und es fällt mir gerade eine Anekdote ein, die das beweist und die ich hier bringen will. Also: Eines Tages kommt der Lehrer Müller von der Struth zu uns herüber. Und gleich stelle ich ihm die Frage: „Wie ist‘s denn bei Euch auf der Struth mit dem Wasser?“ Da lächelt der Mann ganz zufrieden und meint: „Ach, es lebt sich jetzt herrlich: Wasser brauchen wir nicht; wir trinken Bier; manche wa­schen sich mit Milch, und die anderen wa­schen sich gar nicht.“

Als die Not aufs Höchste gestiegen war, kam auch die Rettung, wenigstens für die Orte auf der „Höhe“. Denn gerade in jenem dürren Katastrophenjahr war man dabei, in allen Häusern Wasserleitungen zu legen. Schon war die starke „Gläser­quelle“ im Luttergrunde eingefasst – das Pumpwerk bei der ehemaligen Spitzmühle war vollendet – mehr als 25 km Rohr­leitungen waren von da bis oben auf den „Rain“ und weiter nach Struth, Eigenrie­den, Küllstedt, Wachstedt, Büttstedt gelegt – der große Behälter der Obereichsfelder Wasserleitung wartete auf Wasser. Und am 9. November 1911 stieg zum ersten Mal das gesunde, frische Wasser der „Gläsener Quelle“ aus dem Tale 240 m hoch hinauf auf die „Höhe“, verteilte sich da oben, floss in alle Orte, kam in jedes Haus und machte überall der Not ein Ende. Alle Menschen, auch jene, die ehemals die hef­tigsten Gegner des Wasserleitungsbaues gewesen waren, atmeten erlöst auf und sagten nach solch harter Prüfung: „Gott sei Dank!“

Franz Hunstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Beilage zum „Thüringer Tageblatt“, Sonnabend, den 20. Juli 1957)