Ein Hochsommertag im Friedatal (1956)

Hat der Sommer uns in diesem Jahre nur wenige sonnenreiche Stunden geschenkt, so denken wir besonders gern an hochsommerliche Tage zurück, die wir einst gießen konnten und die wir hoffentlich auch in diesem Jahre noch erleben werden.
 

Komm mit mir Geselle, woll’n wandern wir zu zwein
Bei sommerlich glühendem Sonnenschein.
Doch folge nicht müde, sag nicht, s’ ist zu warm,
So bleibst Du der schönsten Erkenntnisse arm.
Sei auch nicht wie andre auf den Mond schon erpicht,
Wir kennen ja die Erde, unsere Heimat noch nicht!
Will zeigen Dir Wunder, natürlich gescheh’n,
Wie solche, die suchende Menschen nur sehn.
Woll’n wandern durch Felder, durch Wälder, auf Höh’n,
Um oben zu jauchzen „Die Heimat ist schön!“

 

Hochsommermorgen. Noch liegt der glasperlengleiche Tau auf Gräsern, Blumen und Büschen. Wie in flüssiges Gold tauchen die Strahlen der langsam steigenden Sonne in ihn hinein. Auf einem dünn berasten Feldweg schreiten wir allmählich bergauf. Von magerer Wolfsmilch umwachsen liegen zerstreut auf dem Pfade weißgebleichte Kalksteinbrocken. Auf beiden Seiten wachsen am Rain die azurblauen aber noch halbgeschlossenen Blütensterne der Wegwarte abwechselnd mit Stauden des goldgelb blühenden Johanniskrautes. Die körnerbeladenen Fruchtähren neigen eich sanft zur Erde und zwischen ihren Halmen prangen die Sommerblumen der Kalkflora in allen Farben. Knallroter Klatschmohn, blauer Rittersporn, schwefelgelbe Wolfsmilch und zwischendurch leuchten die zarten Blüten der Ackerröte, dann wieder blaue Kornblumen.

Zwischen die Stengel der Wegwarte, die blauen Blütensterne schön der Sonne zugewandt, schlängelt sich das weiße Labkraut, im Volksmund auch „Unserer lieben Frau Bettstroh“ genannt. Sieghaft steigt noch eine trillernde Lerche in die klare Morgenluft, während andere Singvögel nach der Sommersonnenwende allmählich schweigen. Im Korn ruft eine Wachtel ihr Jungvolk zur Tagesruhe zusammen: die Wachteln sind Halb-Nachttiere. Unermüdlich schallt ihr Pik-perr-Wik-pik-perr-Wik. Bei diesem Ruf kommt uns unwillkürlich die Strophe des Wachtelliedes (von Gerstäcker) in den Sinn: "Und wieder bedeutet ihr hupfender Schlag: Lobe Gott – lobe Gott, der dich zu lohnen vermag!"

Schlaftrunken sitzen zu zweien und dreien noch die stahlblauen, mit Punkten gleich Blutstropfen geschmückten Schmetterlinge „Blutströpfchen“ (Zygaena) in ihren Blumenbetten der Skabiosenblüten. Noch können wir sie wie leblos von diesen Blüten abheben, doch die immer stärker wirkenden Sonnenstrahten werden sie bald wecken. Das Leben der Insekten, das Erwachen der Tagfalter wollen wir auf einem vor uns liegenden Waldwiesental erleben, das tief in den Hochwald hineinreicht. Dieses liebliche Waldtal wird von einem plättschernden Bach durchflossen, dessen Ufer mit rotblühenden Weidenröschen umsäumt sind, an deren Stengeln kleine längliche Schnecken emporkriechen, ein Gebaren, das neben dem starken Taufall am Morgen auf einen regenfreien und heißen Sommertag schließen lässt. An einer etwas freieren Uferstelle werfen wir einen Bück in den Bach.

Flink huscht, von unseren Schatten schon erschreckt, eine schleimige Kroppe (eichsfeldisch Rozkopp oder Kulskopp) unter einen Stein und die Larven der Köcherfliege ziehen sich sofort in ihre von Hölzteilen, Halmen und Steinchen zur Tarnung selbstgefertigten Köcher zurück. Allmählich, mit der steigenden Sonnenwärme beginnt auch schon der Insektenflug. Schon umschwärmen die Frühaufsteher die Erd- und Mooshummeln summend und brummend die Blüten des Wiesengünsels und des Salbeis. Ehe die Sonnenvögel, die schönen Tagschmetterlinge wach werden, erbauen wir uns noch ein Weilchen an dem wunderbaren Gesamtbild dieses Waldwiesentales. Seine beiderseits aufstrebenden Hänge sind bewachsen mit Hasel-, Schlehen- und Wildkirschenbüschen.

Zwischendurch schlängeln sich die langen Ranken der Waldrebe, eichsfeldisch Wedewingen oder Teufelszwirn genannt, und dieses Ganze ist wieder überhangen und durchwachsen von Zweigen blühender Heckenrosen. An den Hängen zum Hochwald und gerade am breiten Eingang stehen formenschöne Wacholderbüsche und zwischendurch fast mannshohe Königskerzen, die mit ihrem silberglänzenden Blattgrün wie Leuchter erscheinen, auf denen die langen, aufrecht stehenden feuriggelben Blütenwedel brennenden Kerzen gleichen. Zartblau spannt sich das Gewölb des Himmels über das Tal, gleichsam eine Vorhalle mit geschmücktem Portal als Eingang zum heiligen Hain unserer Vorfahren.

Inzwischen ist es auf der Wiese lebendig geworden. Goldene Käfer und Fliegen schwirren durch die warme Luft oder drängen sich auf den letzten Blütendolden des schwarzen Holunders am Wiesenhang zusammen. Auf den blühenden Distelköpfen sitzt der unterseits schön perlmuttergleich gezeichnete Kaisermantel neben dem unruhig mit den Flügeln wippenden Pfauenauge. Auf den Polstern des wilden Thymians wimmelt es von Faltern des schwarz und weiß karierten Schachbretts. Von Blüte zu Blüte schweben die feurigen großen und kleinen Füchse, etwas seltener schwebt ein schwarzer, gelbumrandeter Trauermantel im ruhigen Fluge vorüber. Um Natterkopf und Wiesengünsel schwirren die flinken, flügeldurchsichtigen hummelähnlichen Hummelschwärmer. Die tagfliegende Ypsiloneule huscht von Blüte zu Blüte der Kleearten. Alles trinkt und saugt duftenden Nektar und Honigseim. Nur beim Überschreiten des Wiesenbaches an einer seichten Stelle erhebt sich ein ganzes Völkchen elfengleicher, seidiger Bläulinge, welche klares Wasser aufsaugen. Hier sausen über den Bach die blauleibigen, goldflügeligen Waldlibellen beutesuchend umher. Libellen sind Kannibalen unter den Insekten.

Es wird wärmer. Wir steigen in den Hochwald: Wohltuender Schatten umfängt uns. Nur durch die Lücken der Baumwipfel wirft die Sonne bewegliche goldene Reflexe auf den Waldboden. Unter einigen halbhohen Fichten wollen wir rasten, doch es riecht hier nach Aas. Vor uns liegt eine tote Drossel, die im Frühjahr aus dem noch über uns hängenden Nest gefallen ist. Giftgrüne und goldene Aasfliegen bedecken den Kadaver, der sich mit der Erde von Zeit zu Zeit hebt.

Aus dem Boden kommen braune Käfer, „Totengräber“, hervor und schaffen die unter dem Kadaver liegende Erde beiseite. Sie wollen wie die Aasfliegen ihre Eier in und unter die Vogelleiche legen, von der die schnell schlüpfenden Larven sich nähren. Sie üben somit noch den Dienst der Gesundheitspolizei in der Natur aus. Plötzlich kommt aus dem Halbschatten des Hochwaldes im eleganten, schwebenden Flug ein sehr großer Schmetterling. Er stoppt über der toten Drossel, die Fliegen schwirren hoch und er setzt sich selbst breitflügelig auf das Aas, um mit aufgerolltem Rüssel die verwesenden Säfte einzusaugen. Es ist der schöne, auf den Flügeln breit gebänderte und unterseits schokoladenbraune mit silbernen Strichen und Flecken gezierte große Eisvogel (Limenitis populi), der größte Tagfalter unserer Heimat. Man kann ihn mit dem noch schöneren blau schillernden großen Blauschillerfalter gemeinschaftlich auf Tierexkrementen, Aas und Wildschweinsuhlen beieinander saugend finden.

Sinnend über die Gegensätze in der Nahrungsaufnahme und ihrer Fortpflanzung steigen wir höher durch den Hochwald. Aus den Buchenkronen tönt der melodische Ruf einer scheuen Goldamsel Büü-lo-Büüllo. Wir äffen Ihn nach, aber sie hüllt sich in stolzes Schweigen. Auf der Höhe wird der Wald lichter.

Wir stehen auf einem steil abfallenden Muschelkalkfelsen, der eine weite Sicht über ein herrliches Tal der Buntsandsteinlandschaft gewährt. Über unseren Häuptern strahlt heiß die Mittagssonne. Im Tal fällt unser Blick auf die von Wiesen umsäumte Werra, die einem silbernen Bande gleicht. Nicht mehr weißgrau, rotbraun erscheinen die unbewachsenen Bodenstellen und Wegränder. Nicht nur die Bodenform hat gewechselt, auch viele bodengebundene Pflanzen und von diesen wieder abhängig die auf ihnen lebenden Insekten haben sich angepasst. Die Wege dort unten begleiten schwefelgelb blühende Ginsterstauden und die Goldrute. Die Waldränder sind eingefasst von blühendem Heidekraut.

Abwärts schreiten wir durch den hier kniehohen Bärlauch (wilder Knoblauch), der mit schönem Farnkraut durchwetzt ist. Langgezogene Schreie Wieäe-wieäe der jungen Bussarde, die das Fliegen üben, hören wir. Noch einmal trinken wir aus dem klaren Bergquell, der unseren Waldbach speist, an dem wir wieder angelangt sind. Die Sonne ist hinter der Höhe untergegangen. Es ist kühler geworden. Die Tagschmetterlinge sind zur Ruhe gegangen. Wegwarte und andere Wiesenblumen schließen ihre Blüten. Am letzten Wegstück sehen wir die „Dämmerungsschwärmer“, den grauen Fichtenschwärmer, die bunten Wolfsmilch- und Ligusterschwärmer mit ihren überkörperlangen Rüsseln aus den langkelchigen Blumen, Flocks, Tabak, Geißblatt und „Jelängerjelieber“ freischwebend den duftenden Nektar saugen und dabei diese Pflanzen befruchten.

In der Natur ist alles auf Gegenseitigkeit, Gegenleistung, Abhängigkeit und Gemeinschaft eingestellt. Alle lebenden Geschöpfe haben Aufgaben zu erfüllen. Und der Mensch ist als das einzige vernunftbegabte Wesen dazu bestimmt, die Natur zu schützen.
 

Lambert Rummel
(Quelle: Eichsfelder Heimatborn, vom 01.09.1956)