Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht - Aus Eichsfelds trüben Tagen zur Zeit des 7-Jährigen Krieges

Für den Schulgebrauch geeignet von H. Röhrig

Hundert Jahre waren seit dem schrecklichsten aller Kriege, dem 30-Jährigen, dahingegangen. Durch zähen Fleiß und äußerste Sparsamkeit hatten sich unsere Väter wieder zu ansteigendem Wohlstand emporgeschwungen.

In den eichsfeldischen Dörfern blühte die Rasch- und Zeugmacherinnung; die Landwirte hatten durch Anbau neuer Kulturgewächse (Esparsette und Kartoffeln) ihren Viehstand vermehrt und der daniedergelegenen Wirtschaft eine verheißungsvolle Zukunft in Aussicht gestellt. Zwar lagen noch viele Ortschaften als Wüstungen in Schutt und Trümmer und kündeten von stummem Leid und stiller Klage. Doch waren die wiedererstandenen Siedelungen Zeugen regen Gewerbefleißes und sich bessernder Lebenshaltung.

– Da zogen gegen Mitte des 18. Jahrhunderts aufs Neue dunkle Wetterwolken auf, und zitternd und zagend lösten sie Furcht und Schrecken in der Brust unserer hartgeprüften Altvordern. Sollte das Eichsfelder Ländchen schon wieder sich in Trauer hüllen?! –

Still und friedlich lag Kloster Zella in seinem beschaulichen Waldesfrieden. Der Klosterpächter Hartleib, ein geborener Wilbicher, hatte eine wahre Musterwirtschaft im anheimelnden Talgrunde angelegt. Als Mann des Fortschritts, der vielgereist und Menschen und Länder geschaut, hatte er fremde Kulturen geprüft und der Heimat das Beste mitgebracht. Im ganzen Eichsfelde war er bekannt, und viele kamen, seine Musterwirtschaft in Augenschein zu nehmen. –

Es ist an einem herrlichen Junitage des Jahres 1757. Von Mühlhausens Gemarkung schreiten zwei rüstige Landleute auf staubiger Straße Faulungen zu. Ihr Ziel ist Kloster Zella. Auch zu ihren Ohren ist die Kunde von einer ertragsreichen Futterpflanze gedrungen, die auf dem ärmlichen eichsfeldischen Kalkboden ganz vorzüglich gedeihen soll. Schweißgebadet treten sie in das schmucke Gutsgebäude ein. „Gott zum Gruße!“, so empfängt der unter schattigem Lindenbaum sitzende Gutspächter die Eintretenden. „Kommt, ruht euch ein wenig im kühlenden Schatten aus und stärkt euch an einem kräftigen Schluck!“ Die freundlichen Worte des Gutsherrn machten einen guten Eindruck auf die ermüdeten Fremden, die sich inzwischen auf den selbstgefertigten Bänken niedergelassen hatten. Da war auch die nimmermüde Hausfrau schon mit einer Kanne selbstgebrauten Bieres herbeigeeilt, und schon zierte eine stattliche Blume die Gläserreihe, und anstoßend leerte man sein Glas auf das Wohl des gastfreundlichen Hauses. Bald ringelte sich auch aus kurzer Pfeife duftender Kanaster durchs dichte Lindengeäst und verkündete den frohen Sängern im lauschigen Blätterdach von ernsten und heiteren Geschichten.

„Na, was führt euch hierher?“, nahm nach einer Weile der Pächter das Wort. „Wir haben daheim von euren riesigen Futtererträgen gehört und sind gekommen, uns von der Richtigkeit der Post zu überzeugen; vielleicht, dass auch wir lernen und eure Neukultur erproben können“, entgegneten die Landleute. „Nichts lieber als dies“, versetzte der lächelnde Gutsherr; „freue mich jedes Mal, anderen meine Erfahrungen mitzuteilen. Seht dort am Waldsaum das rotleuchtende Feld! Das ist die Blüte der neuen Pflanze. Das Feld ist ungefähr 2 Morgen groß; habe im vergangenen Jahre 3 große Pferdefuhren abgefahren; ist dazu noch eine ganz ergiebige Bienenweide. Ich sage euch: wenn das sonnige Wetter noch 14 Tage anhält, dann garantiere ich bei meinen 20 Immenvölkern mit einem Honigertrag von rund 15 Eimern. Eine kleine Zugabe, die die neue Pflanze so nebenbei abwirft.“ –

Staunend und voller Zweifel sahen sich die beiden Mühlhäuser an. „Doch höret weiter!“, nahm wieder der Hausherr das Wort. „Die Bauern in der ganzen Umgegend staunen über meine aufblühende Wirtschaft, als wenn‘s Teufelsspuk wäre. Geht, ich habe meinen Viehbestand um 10 Kühe vermehren können. Milch, Butter und Käse werde ich reißend los. Schlachtvieh ist auch genügend vorhanden – alles die Folge der sehr gut gedeihenden Futterpflanze. Doch wie‘s nun einmal geht! Alles Neue bricht sich nur langsam Bahn. Zu Effelder, Geismar, Wilbich und Bartloff sind die einst öden Bergabhänge mit Esparsett bebaut, und überall kann man in diesen Ortschaften aufblühendes Leben beobachten.“ –

Er hatte eine Weile in seinem Redefluss eingehalten. „Was ist das für ein Kraut“, so nahmen fragend die Landleute das Wort, „das ihr, werter Herr, auf dem angrenzenden Acker zieht?“ Ist auch so mit dieser Pflanze; nennt sich Kartoffel und habe sie von meinem Freunde Franz Hartung aus Heiligenstadt mitgebracht. Macht viel Arbeit; allein der Ertrag ist riesig. Eine Menge Äpfel kann man im Herbste ernten, gute Nahrung für Menschen und Vieh.“ „Äpfel!“, unterbrach einer der Mühlhäuser schnell das Gespräch; haben bisher nur in Erfahrung gebracht, dass der Herrgott die Äpfel an den Bäumen wachsen lässt, und jetzt erzählt ihr, dass der 'Mensch es so weit fertiggebracht hat, dass er diese runden Früchte sackweise aus der Erde roden kann. Das ist ja hier die reinste Hexerei!“ – „Gemach, werte Herren!“, erwiderte der Gutsherr. „Erdäpfel nennt man diese über England aus Amerika zu uns gekommene Pflanze; hat mit der Baumfrucht nur die runde Form, sonst nichts gemein. Habe sie den Bauern ringsum überall empfohlen; allein aus Unkenntnis und Faulheit können sie sich nicht zum Anbau entschließen. Doch es wird gewiss der Tag kommen, wo sie einmal gern mit Kartoffeln ihr weniges Brot strecken werden und dann froh sind, dass sie das Hungergespenst mit dieser goldenen Frucht abwenden können!“ – „Da sind wir ganz erstaunt, solch eine Musterwirtschaft vorzufinden“, meinten da die Landleute. Wie wär‘s, wenn wir ein wenig Samen der neuen Kulturgewächse bekommen könnten? Unser Dank ist ihnen zu allen Zeiten sicher. – „Nichts lieber als dies“, ließ sich der Pächter vernehmen; „ist mir immer ein Herzensbedürfnis gewesen, allen Landsleuten, auch über den Landgraben hinaus, zu helfen!“

Mit einem halben Sack Kartoffeln und 3 Metzen Esparsettsamen hatten sich die Mühlhäuser dankend verabschiedet; im weiten Torbogen schwangen sie noch einmal grüßend ihre Kopfbedeckung als erneuten Dank für all das Gesehene und Gehörte. –         

Der Herbst war bereits ins Land gezogen. Da durcheilten berittene fremde Soldatentrupps das stille Friedatal. Ein Knecht aus dem nahen Lengenfeld hatte am Morgen den erstaunt aufhorchenden Gutsleuten erzählt, dass die Franzosen einrücken würden. Sie seien im Thüringischen geschlagen und wollten nun Winterquartiere auf dem Eichsfelde beziehen. So habe gestern Abend noch der Schultheiß im Dorfe bekannt gegeben. Die Lengenfelder hätten schon vieles in Garten und Feld vergraben. Aus Heiligenstadt sei noch um Mitternacht Post gekommen, dass jede Ortschaft belegt wurde. Die Leute sollten nur verständig sein und alles freiwillig abliefern; der Franzmann verstände es schon, die Sachen zu finden. „Heiligster Vater!“, hatte da die Gutsfrau geschrien; doch noch ehe sie‘s ausgedacht, kam den Hohlweg von Lengenfeld her ein Fähnlein Berittener angesprengt.

Es waren Quartiermacher, die also forderten: 500 Taler, 8 Pferde, 5 Fuder Heu und je 10 Lack Gerste, Hafer und Roggen. Da hatte den Pächter bald der Schlag gerührt; doch was half‘s, er musste sich der Gewalt fügen. Noch ehe die Sonne unterging, hatte ihm ein reisender Handwerksgeselle verraten, dass die Heerstraße und alle Dörfer und Städte und Gutshöfe wie von einem Heuschreckenschwarm angefüllt seien und jedes Haus wie mit einem Besen auskehre. Und wirklich, es kam, wie die Gerüchte es vermeldeten. Auch der Zellerhof bekam seine Einquartierung. Bange Wochen und Monate schlichen dahin; immer lichter wurden Scheunen und Böden und Stallungen unter der fortwährenden Beschlagnahmung alles Verwendbaren für Ross und Reiter. — — —

Das Jahr 1758 zog daher; immer noch fühlten sich die Rothosen wohl in Eichsfelds Winterquartieren. Ein schöner Märzmorgen brach an, und mit dem frisch einsetzenden Frühlingssturme brausten preußische Reiter heran. Den Gutsleuten war die nicht zu unterdrückende Ängstlichkeit der Fremden nicht verborgen geblieben. Und richtig! Noch ehe sich die Frühnebel verteilten, waren die Französlinge aus Dorf und Flecken abgerückt. Auch Zellas Mauern lagen einsam da; doch atmete alles wieder die reine Luft der wiederbefreiten Scholle. Groß und Klein dankte dem Herrgott für das Ende der Landplage, und drüben aus dem Faulunger Grunde schallte ein Liedlein, das eines fahrenden Burschen, zum Gutshofe herüber, das schon in wenigen Wochen ganz Lengenfeld sang:

„Und wenn der große Friedrich kommt
Und klopft sie auf die Hosen,
dann läuft die ganze Reichsarmee,
Panduren und Franzosen — —"

Herr Hartleib und seine Gemahlin, die Wort für Wort verstanden hatten, mussten trotz ihrer gemischten Gefühle auflachen; doch immer noch tönte ihnen die lustige Weise im Ohr, die auch die Knechte und Mägde bald nachsangen. – „Doch man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!“, hatte der alte Schweizer gesagt, und       er sollte gar zu schnell recht bekommen. — — —

Den rüstigen Pächter hielt‘s nicht mehr in seinen vier Wänden. Solange die Franzosen seinen Hof besetzt hatten, war es ihm unmöglich gewesen, über Land zu wandern. Der glänzende Sonnenschein, das frische Grün, der jubelnde Lerchengesang und das Herz voller Lust über die wiedergewonnene Freiheit hatten ihm den Wanderstab in die Hand gedrückt. Er wollte nach langer Zeit mal wieder nach seinem geliebten Mühlhausen, vielleicht hatte er auch so viel Zeit, die beiden Landwirte aufzusuchen, denen er ja seinen Besuch versprochen. Ob sie wohl schon Probeversuche mit ihrem neuen Samen angestellt und günstige Resultate erzielt hatten, dachte er bei rüstigem Vorwärtsschreiten; doch schon vor den Toren der Stadt ward seine Aufmerksamkeit durch neu angekommene Soldaten gebannt. Mit Mühe gelangte er in die Wanfrieder Straße, huschte beim bekannten Schenken hinein, und gar bald war er mit diesem in eifrigem Gespräch. Allerhand Neues wusste dieser zu berichten. Preußische Regimenter seien den Franzosen gefolgt. Die Spitzen seien schon in Heiligenstadt, Worbis und Duderstadt gesichtet. Gut, meinte der dickleibige Gastrat, dass die Saufranzosen das Lauffieber bekamen; hoffentlich brächten die Preußen bessere Tage. Ob er sich nicht getäuscht hatte?! — — —

Und weitererzählend, berichtete er den aufhorchenden Gästen, dass die Rothosen hier in Mühlhausen wild gehaust. Die schönen Kirchen seien noch heute Zeugen ihres unchristlichen Betragens.

Zu Magazinen und Speichern hätten sie dieselben erniedrigt. Die Marienkirche und Brückenhofskirche war für Heu, die Kreuzkirche für Korn, St. Kilian für Pulver und Allerheiligen für Betten und Kleidungsstücke beschlagnahmt. Nichts wäre ihnen heilig; und da nenne sich dies Volk noch christlich?!  — — —

Wütend unterbrach ihn ein Bürger vom Steinweg. Räsoniert über die Franzmänner wie ihr wollt: möget recht haben; doch was haben uns die Preußen gebracht? Kriegskontributionen in Geld und Furage – einfach himmelschreiend! Und da die Stadt die Forderungen als unerfüllbar ablehnte, haben sie angesehene Bürger als Geiseln weggeführt. Ratsherr Graßhof und Ratskämmerer Meckbach sind bereits in Leipzig untergebracht. Auch von den eichsfeldischen Städten berichtet man Gleiches. Dort verlangten sie von den Ständen 700 Malter Korn und 130.000 Taler. Unerhört! „Was soll das noch werden?“, jammerte der Wirt, „ist eine Plage fort, dann kommt eine neue und treibts ärger als die erste“. Seine wutunterdrückten Seufzer erstürben jäh auf seinen Lippen; denn eben trabten preußische Dragoner am Fenster vorbei, und Schloss und Riegel dünkten ihm näher denn je. Still war‘s in der Gastwirtsstube geworden; jeder vermutete hinter Wänden und Türen Späher, und eiligst brach ein Gast nach dem andern auf. Auch unser Zellaer hielt es für angebracht, sich aus dem Staube zu machen, um nicht vorzeitig die Bekanntschaft mit den Preußen zu erleben. Den Besuch bei seinen Freunden wollte er für diesmal noch verschieben, vielleicht würden die unruhigen Zeiten bald vorüber eilen. — — —

Doch hatte er nicht im Geringsten es sich träumen lassen, dass noch volle 4 Jahre voller Kriegs- und Hungerzeiten folgen würden, die ihm alle Lust an seiner liebgewonnenen Landwirtschaft vereiteln, die ihn von einem wohlhabenden Pächter an den Bettelstab bringen sollten. — — —

Das Jahr 1763 war hereingebrochen. Auf dem Zellaer Gutshofe war es still und öd‘ geworden. Die Scheunen waren leer von Stroh und Heu, Wagen und Pferde waren ausgeliefert, das letzte Vieh war vor Hunger abgeschlachtet worden. Und wie hier, so war es in den meisten eichsfeldischen Ortschaften. Heiligenstadt konnte ein besonderes Liedchen singen. Nur mit knapper Not entging es der Plünderung durch preußische Husaren. Junge Leute wurden zum Kriegsdienst ausgehoben, denn die Ordre des Preußenkönigs bestimmte, dass vom Obereichsfeld 260 und vom Untereichsfeld 240 Rekruten ausgehoben werden sollten. Dazu mussten 400 vierspännige Wagen und 200 der besten Pferde geliefert werden. — — —

Und abermals kamen die Franzosen. Der Schultheiß von Geismar war in Heiligenstadt gewesen und hatte die Hiobspost mitgebracht, dass 400.000 Rationen Heu und Hafer schnellstens geliefert und dass Eichsfelder Männer in der Mühlhäuser Gegend sich unverzüglich zu Schanzarbeiten zu melden hätten. Das hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Der letzte Tropfen sollte dem siechen Eichsfelder Volke ausgepresst werden. — — —

Da war der Schultheiß und Amtsvorsteher in eigener Person von Geismar nach Lengenfeld gekommen und hatte erzählt, dass 540 Husaren und Jäger geschickt seien, die Forderungen einzutreiben. In Wilbich sei gestern der Husarenhauptmann Vornhoffer plötzlich am Schlage gestorben und sei auf dem dortigen Kirchhofe beigesetzt.

„Viel zu schade, die eichsfeldische Erde, die diese Blutsauger beherbergen muss!“, hatten die Leute voll Ingrimm gerufen. Und es kam ihnen aus der Seele, denn sie alle hatten alles verloren, nichts als das nackte Leben hatte man ihnen gelassen. „Ganz recht habt ihr“, hatte der Schultheiß gesprochen.

„Unerhört, nicht mehr zu ertragen ist es. Da soll die kleine Gemeinde Wilbich fast 100 Taler Kontribution zahlen. Die Kirche muss das Geld bei der Gemeinde Großbartloff leihen, die selbst verarmt. Und so geht es uns und allen Gemeinden; alles ist verschuldet bis über die Ohren. „Wann wird der Retter kommen unserm schwergeprüften Lande?“ — — —

Und endlich in höchster Not erscholl der Friedensruf durch Eichsfelds Gaue. Am Schulzenhaus in Lengenfeld ward angeschlagen, dass am 15. Februar endgültig der Krieg beendet sei. Die Truppen hätten sich von dieser Zeit ab selbst zu verpflegen. — — —

Wie hatte das abgestumpfte Volk diese Nachricht vernommen! In völliger Hilflosigkeit wollte keine Friedensstimmung aufkommen. Noch einmal mussten die Dorfbewohner den abziehenden Soldaten Brote und Pferde liefern, das letzte aus Stall und Kammer. –

Doch ein Dankgebet entrang sich der hilfesuchenden Brust für die überstandenen Nöte und Gefahren und wurde zum Bittgebet für Trost und Hilfe in kommenden schweren Aufbautagen. — — —

Hermann Röhrig
(Quelle: „Mein Eichsfeld“, Jahrgang 1931, S. 87 – 91)