Die Hochwasserkatastrophe des 5. Juni 1913 in Kella

Zweiundzwanzig Jahre sind vergangen, seit jenem verhängnisvollen 5. Juni 1913, an dem ein schweres Unwetter unser stilles, friedliches Dörfchen heimsuchte. Der preußische Landtag wurde gerade gewählt, nach dem berühmten Dreiklassenwahlrecht. Gegen 5 Uhr nachmittags stiegen im Südosten dunkle Wolken auf, die sich bald zu einem drohenden Unwetter zusammenballten, von Schwebda her das Tal durchzogen und vor der Goburg stehen blieben.

Ein furchtbares Wetter entladet sich. Grauenerregend wechseln flammende Blitze und rollender Donner, es pfeift und kreischt und rast und heult in den Lüften. Wolkenbruchartiger Regen schießt vom Himmel nieder, von den Bergen wälzen sich gewaltige Wassermassen durch die schmalen Straßen und Gassen, und der Sturmwind peitscht die schaumgekrönten Wellen Stufen und Mauern hinauf. Im Handumdrehen steht das Wasser dreiviertel Meter hoch und höher. Vor den Häusern aufgespeichertes Holz, Fässer, Kübel und Eimer, alles wird mit fortgerissen, nichts vermag dem grausigen Element Einhalt zu gebieten. Die Dorfstraße entlang schießen die schmutzigen, gelben Fluten das Tal hinunter nach Schwebda zu. Der Bach hat sein enges Bett verlassen und lässt ein schauriges Bild gewahren; er hat nichts weiter zu spiegeln als überschwemmte Felder und darüber die schweren Wolken, die den Himmel verhüllen. Einhalt gebietet erst der Eisenbahndamm, wo sich der Raub des rasenden Elements aufstaut: Abgebrochene Baumstämme, ausgerissene Feldfrüchte, mitgeschleppte Fässer, Kübel und Eimer, Steinblöcke und Tierleichen, ein wüstes Durcheinander.

Am Gehöft des Schuhmachers Philipp Fritsche bricht sich das Wasser. Der Eigentümer muss flüchten; sein 5-jähriges Töchterchen auf dem Rücken, sucht er am Staket entlang die Straße zu gewinnen. Das Kind muss sich wohl, durch einen Blitzstrahl erschreckt, losgelassen haben, plötzlich war es in der unersättlichen Flut verschwunden. Später fand man die kleine Leiche zwischen Fichtenstämmen festgeklemmt bei der väterlichen Scheune.

Ein schwüler Sommertag ging zur Neige, nicht mit lockendem Sonnenschein, sondern mit kaltem, wolkenbruchartigem Gewitterregen. Bleigrauer Himmel hing über dem Dorf, und die Straßen und Wege starrten von Pfützen und Tümpeln, in denen das Regenwasser zusammenlief.

Die Ernte war so gut wie vernichtet: Das Getreide zermalmt, die Kartoffeln aus der Erde gewühlt, die Wiesen verschlammt. Umsonst war der Fleiß der Bewohner gewesen, umsonst ihre saure, schwere Arbeit. Mit staatlicher Unterstützung gelang es, die völlig zerstörten Separationswege wiederherzustellen, die Wassergräben zu verbreitern und zu vertiefen und die Fehler an der Kanalisation zu beseitigen.

Chr. Burchart
(Quelle: „Mein Eichsfeld“, Jahrgang 1936, S. 103)