Wann war das oft zitierte „Früher“?

Oft unterliegen wir Älteren der Meinung und Gefahr, dass früher vieles anders und viel besser war.

„Früher, wann war das?“

Diese Frage stellte ich bereits vor fast 70 Jahren meiner Mutter und auch meiner Großmutter. (Jahrgang 1856).

Wenn sie von früher sprachen, meinten sie die Zeit vor und um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert.

Es war die Zeit, noch lange vor dem 1. Weltkrieg, wo Deutschland noch einen Kaiser hatte.

Es war auch die Zeit, wo die Zigarrenmädchen in der Zigarrenfabrik noch auf Holzkisten und Schemeln saßen.

Viele Mädchen gingen ins Hannoversche zum Spargelstechen. Die Männer zu Ziegeleien und Zuckerfabriken fern von Zuhause. Die Frauen und Mütter kümmerten sich daheim um die Kinder, Haus, Hof, Vieh, Garten und ein paar Brocken steiniges Ackerland. Zu den großen Feiertagen kamen die Männer und Väter in ihre Eichsfelder Heimat.

Evtl, zwischendurch auch mal wieder zur nächsten Kindtaufe. Familien mit sechs bis acht Kindern waren nichts Außergewöhnliches. Manche Mutter musste die Mark erst einige Male umdrehen, ehe sie ausgegeben werden konnte. Kleinere Geschwister schlüpften oft in die getragenen Kleidungsstücke ihrer größeren Geschwister. Wer schon im Besitz einer handbetriebenen Holzwaschmaschine war, gehörte oft schon zu den Bessergestellten.

Auch ich bin in einer solchen Familie mit sechs Geschwistern in einer kleinen Landwirtschaft aufgewachsen (1919 – 1935). In solch einer Familie hatte auch jedes Kind eine tägliche Aufgabe in der kleinen Landwirtschaft zu erfüllen. Mir oblag als Jüngstem im Frühjahr und Sommer das „Gänsehüten.“ Ein Dutzend und mehr waren es immer. Eine Delikatesse war damals frisch gebackenes Bauernbrot mit Gänsefett bestrichen. Unsere Mutter sagte dann immer beim Beschmieren der Brote: „Jungen, denkt draane, es est Gänsefatt.“ Das hieß, dass wir es nicht zu dick auf das Brot streichen sollten.

Gingen wir Kinder aus dem Haus zu den Großeltern oder Verwandten, dann sagte unsere Mutter meistens ermahnend:

„Klopp aber aan un sprich scheene Guten Tach un Machs gut. Unn wann ne was geschenkt kriest, dann sack abber Danke scheen.“

Als ganz kleine Steppkes machten wir noch einen Diener beim Tagesgruß, bzw. die kleinen Mädchen einen Knicks. Begegnete man im Dorf älteren Leuten, so war es gang und gäbe, dass man diese zu grüßen hatte.

Doch gestehe ich auch heute ein: Sahen wir von Weitem den Lehrer, Schulzen, Pfarrer oder gar den Ortsgruppenleiter der NSDAP, so machten wir einen großen Bogen um diese. Unsere Großeltern, Eltern und auch meine Generation, wurden teils erzogen nach sogenannten „preußischen“ Tugenden. Dazu gehörte zu meiner Zeit auch die Prügelstrafe mit dem Rohrstock in der Schule. So hatten wir beispielsweise einen Lehrer, der als kollektive Disziplinarmaßnahme die ganze Klasse vom ersten bis zum letzten Schüler/in mit dem Rohrstock züchtigte. Bei solch einer Massenverprügelung steckten wir Junges uns meistens Hefte in die Hosen, um die Schläge zu mildem. Doch wenn es der Lehrer merkte, mussten wir diese aus der Hose herausholen. Auch Schläge mit dem Rohrstock in die Hand oder das Ziehen an den Ohren waren keine Seltenheit. Beides konnte sehr schmerzhaft sein. Und wenn ich daran erinnere, wie wir damals zu grüßen hatten – meine Schulzeit von 1935 bis 1945 –  mit ausgestrecktem Arm und dem Hitlergruß.

Doch wir Kinder hatten in unserem Dorf auch das Gespür, wen wir solchermaßen zu grüßen hatten und wen nicht.

Ja, unter dieses „früher“ fallen ja auch noch die furchtbare Zeit des 2.Weltkrieges von 1939 bis 1945 und die folgenden entbehrungsvollen Nachkriegsjahre nach dem Zusammenbruch 1945. Manche Mutter wusste oft nicht, ob sie ihren Kindern am nächsten Tag ein Frühstücksbrot mit zur Schule geben konnte. Angesagt war Ährenlesen, Kartoffelnstoppeln, schwarz schlachten (und nicht erwischt werden), Tauschgeschäfte, Ölpressen usw. … Mehr als hundert Männer waren im Krieg geblieben und haben dort ihr Leben gelassen. Viele Kriegsgefangene sahen erst Ende der 1940er Jahre ihre Heimat wieder. Zu Hause wartete man oft monatelang auf einen Brief oder sonstiges Lebenszeichen. All das habe auch ich miterlebt, denn meine vier Brüder waren Soldaten an der Front und teils auch noch einige Jahre in der Kriegsgefangenschaft. So kenne ich auch die Ängste und Sorgen sowie schlaflosen Nächte meiner Mutter.

Ja, das verstehe ich heute wenn es heißt: „Früher.“

Trotz dieser Entbehrungen und vielen Einschränkungen in unserer Kindheit und Jugend hat uns diese Zeit in einer großen Familie auch für unseren späteren Lebensweg mit geprägt und geformt. Gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme lernte man von Kindesbeinen an. Auch was Teilen heißt, war kein Fremdwort. So möchte ich meine Kindheit und Jugendzeit keinesfalls missen und ich werde sie auch nie vergessen. Unseren Eltern zolle ich noch heute großen Dank dafür.

Doch nun zur heutigen Gegenwart. Manches gefällt uns Älteren nicht an unserer Enkelgeneration. So benutzen wir oft – auch ich – den Jargon: „Ja früher, da war alles viel … ???“ Doch wenn ich mich persönlich dann insgeheim frage, komme ich zu der Feststellung: Wäre ich heute nochmals sechzehn, würde auch ich ein Jugendlicher von heute – und nicht von vorgestern – sein.

Die Zeit, Forschung, Wissenschaft, Entwicklung, Technik, Bildung usw. bleibt nie stehen. Das vergangene Jahrhundert hat dies in einem rasanten Tempo wie nie zuvor gezeigt.

Waren in unserer Kindheit Telefon und Radio noch ein Wunderwerk, so schauen wir heute mal in das Umfeld unserer Enkel.

Da stehen wir Älteren oft wie vor dem „7. Weltwunder.“

Oft hört man von meiner Generation den Vorwurf an unsere Kinder und Jugendlichen, dass sie sich uns Älteren gegenüber sehr reserviert und wenig freundlich verhalten, nicht grüßen usw.

Dazu muss ich zur Ehrenrettung für die Kinder und Jugendlichen meines Wohngebietes der Keudelsgasse und anliegenden Straßen sagen (und auch viele im Dorf): Die meisten von ihnen sind sehr freundlich und aufgeschlossen. Viele von ihnen grüßen mich schon von Weitem, mit einem lauten und freundlichen: „Hallo“. Auch komme ich mit vielen von ihnen ins Gespräch: „Wie war es heute in der Schule?“ Oder wie gerade in den letzten Tagen: „Wie war das Zeugnis?“ Oft folgt dann sprudelnde Begeisterung, doch auch manchmal schweigendes Achselzucken. Andere wiederum erzählen, begeistert vom Fußball. Wer am letzten Sonntag die Tore für Blau-Weiß geschossen hat oder sie zählen mir auf, wie unsere Gastspieler namentlich heißen. In der vergangenen Woche erzählten mir zwei Viertklässler, dass sie mit der Schulklasse eine Fahrt nach Erfurt gemacht haben und dort den Thüringer Landtag, das Funkhaus der Landeswelle Thüringen besucht und eine Stadtführung unternommen haben: „Und morgen müssen wir einen Aufsatz darüber schreiben“, war der abschließende Kommentar dazu. Andere Ministranten/innen und Fußballer erzählten mir, dass sie mit Walter Schröder am ersten Ferientag eine Tagesfahrt zu den Thüringer Wintersportstätten unternommen haben. Der Aufstieg zur Sprungschanze wäre schon etwas anstrengender gewesen. Doch sie waren alle sehr angetan und begeistert davon, zumal als versöhnender Ausgleich zum Schluss auch bei „MC1‘ Tonart“ stattfand, erzählten sie mir mit heller Begeisterung von ihren ersten Auftritten als Ballett - und Tanzmädchen bei den Büttenabenden des LCV und nicht zu vergessen beim Seniorenfasching. Da auch ich diese Auftritte gesehen habe, konnte ich ihnen nur lobend beipflichten.

Besonders freue ich mich, wenn Kleinkinder die gerade dem Säuglingsalter entsprungen, die ersten Schritte und Worte wagend auf mich zukommen, mich Opa nennen und mir ihr kleines Händchen reichen. So kann man mitverfolgen, wie schnell Kinder heranwachsen.

So gilt beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen von heute ein altbekanntes Sprichwort: „Miteinander reden, ist besser als gegeneinander zu schweigen.“ Und dies gilt für Alt und Jung!

Persönlich habe ich mit unseren Gassenkindern und deren Umfeld gute Erfahrungen gemacht.

Trotz gelegentlicher Unkenrufe sollte man mit Optimismus in die Zukunft schauen. Denn es sind unsere eigenen Kinder und Enkel.

Wie sagt so schön der Optimist: „Die Flasche ist noch halb voll.“ Und der Pessimist: „Die Flasche ist schon halb leer.“

In der Gewissheit, dass meine Zeilen nicht von jedermann spontane Begeisterung und Zustimmung erfahren, möchte ich jedoch Eltern und Großeltern von meinen guten Erfahrungen wissen lassen. Deshalb habe ich sie als kleines „öffentliches Lob“ hier im „Lengenfelder Echo“ niedergeschrieben.

PS: Kindheit und Jugendzeit verbrachte ich in meinem Heimatort Struth.

Willi Tasch
(Quelle: „Lengenfelder Echo“, Nr. 27, vom März 2002, Seite 4-5)