Vom Bleichen Knabenkraut (Orchis pallens) - Seine Ausbreitung in Nordwest-Thüringen bis zum Eichsfeld (1957)

1934 stellte ich im oberen Friedatal in der Umgebung von Lengenfeld u. Stein einen Standort mit ungefähr 20 blühenden Pflanzen des seltenen bleichen Knabenkrautes (Orchis pallens) fest. O. pallens kommt in seinem nur schmalen mitteldeutschen nordwärts gerichteten Ausbreitungswege zerstreut auf nur weit voneinander getrennten Standorten vor. O. pallens wächst demnach nur auf Stellen, wo es die gleichen Biotope (Umweltsbedingungen) findet. Dieselben sind aber bis heute botanisch-wissenschaftlich noch ungeklärt. 1935 fand ich ca. 2½  km westwärts vor der Plesse einen kleineren Standort (4 blühende) und ¾ km höher auf dem Plesserücken noch einen dritten größeren Wachsplatz. Diese zwei Standorte sind heute nicht mehr zugänglich. Die Zahlen der blühenden Pflanzen waren in den folgenden Beobachtungsjahren nie gleich, sie schwankten erheblich. So z. B. waren auf dem Lengenfelder Standort 1956 39 blühende Pflanzen und 1957 dagegen nur 9 Stück blühende.

Da ich in den Jahren 1934 – 1936 mehr entomologisch als botanisch arbeitete, machte ich aber Professor Neureuter, Heiligenstadt, auf diese neuen Wuchsplätze von O. pallens im oberen Friedatal aufmerksam. In seiner 1910 erschienenen Flora des Eichsfeldes war O. pallens noch nicht aufgeführt. Prof. Neureuter überzeugte sich persönlich und beabsichtigte, auch diese Spezies in einem in Arbeit befindlichen Nachtrag zur Flora des Eichsfeldes mit aufzuführen. Leider kam dieser Nachtrag nicht zustande, da Prof. Neureuter am 16. Juni 1936 im Alter von erst 62 Jahren starb. Seinen naturwissenschaftlichen Nachlass erwarb das Staatl. Gymnasium in Heiligenstadt, an welchem Prof. Neureuter bis 01.04.1936 amtiert hatte.

Seit 1945 sind die schriftlichen Arbeiten sowie auch seine gesammelten natürlichen Objekte und Präparate verschwunden und nicht mehr auffindbar. Unersetzliches wissenschaftliches Heimatgut war verloren.

In den folgenden Jahren, angeregt durch die Schönheit und geheimnisvolle Fortpflanzung der Familie der Orchideen, sah ich nun neben der Beobachtung von Insekten des Südeichsfeldes auch meine Aufgabe darin, die Orchideenarten mit zu beobachten, zu schützen und zu erforschen. Durch Austausch der Beobachtungen mit botanisch interessierten Freunden und dem Studium vieler Pflanzenwerke und angrenzenden Lokalfloren Mitteldeutschlands glaube ich, in Nordwestthüringen östlich der Werra entlang den Wanderweg von O. pallens bis zum nördlichsten Wuchsplatz seiner Ausbreitung – des Dün – im Eichsfeld beschreiben zu können.

Zum besseren Verständnis der Biologie von O. pallens und seinen süddeutschen Standorten bis nach Thüringen zwischen Jena und Weimar zitiere ich die hochwissenschaftliche Arbeit der Orchiskapazität Dr. Georg Eberle, Wetzlar, „Das Bleiche Knabenkraut“:

„Seltenheit und Schönheit des Bleichen Knabenkrautes O. pallens messen dieser Art unter den heimischen Orchideen einen besonderen Rang zu. Da die Pflanze in großen Teilen unseres Gebietes fehlt, wird das Auf suchen für manchen zu einer weiten Pilgerreise. Von den Opfern und Mühen wird aber der kaum sprechen, dem es vergönnt war, an dem natürlichen Wuchsplatz vor der Pflanze zu stehen.

Das Bleiche Knabenkraut ist eine submediterran-montane Art, die von Kleinasien und Transkaukasien durch die Gebirge der Balkaninsel bis zu den Westalpen (Dauphine) reicht. Es kommt auch im Apennin vor, nicht aber auf der Pyrenäen-Halbinsel. Obwohl es feuchtwarmes Klima liebt, fehlt es dem Westen Mitteleuropas und auch im westlichen Deutschland. Sein Verbreitungsgebiet endet auf deutschem Boden mit einer gegen Westen und Norden gerichteten Grenze, welche vom Hegau her über den Jura nach Norden zum oberen Main zieht und von hier auch nach Thüringen umgreift. Es findet sich mehrfach im Saalegebiet von Jena bis Weimar, im Fränkischen und besonders im Schwäbischen Jura, wo es allein nach K. und F. Bertsch, Flora von Württemberg (1933) zwischen Tuttlingen und Urach von 40 Standorten bekannt ist. Südlich der Donau kommt es nur sehr zerstreut vor, vereinzelt auch in den Alpen Oberbayerns. Während es sich im Jura bis 900 m Höhe findet, steigt es in Oberbayern bis 1200 m empor. Seine höchsten Alpenstandorte liegen im Wallis und Berner Oberland bei 1750 bzw. 1950 m. Eine befriedigende Erklärung für das eigenartig sporadische Auftreten der Art in Mitteleuropa ist bis jetzt noch nicht gefunden.“ – Soweit Dr. Eberle.

Nimmt man die neueste Mitteldeutsche Pflanzengeographie von Prof. Dr. Otto Schwarz „Thüringen, der Kreuzweg der Blumen“ zur Hand, so erwähnt Prof. Dr. Schwarz mehrere Standorte aus der südlichen Region der Wald- und Krautsteppe Thüringens (S. 109). Dazu vergleiche man im Anhang dieses Werkes (auf S. 291) die Nr. 7 der 12 Pflanzengeographischen Wanderungen.

Nördlich von diesen von Prof. Dr. Schwarz genannten Wuchsplätzen gibt Dr. L. Möller in seiner Lokalflora von Nordwestthüringen 1873 auf Seite 177 den Hainich bei Mühlhausen als Standort von O. pallens an. Er schreibt: „dort nicht selten, gern in der Nähe nasser Gräben”.

Desgleichen machten mich botanisch interessierte Natur- und Heimatfreunde des Kulturbundes Mühlhausen auf den Standort von O. pallens im Mühlhäuser Stadtwalde aufmerksam. Der von mir 1934 festgestellte Standort des oberen Friedatales bei Lengenfeld u. Stein liegt nur ungefähr 18 km westlich von dem Mühlhäuser Stadtwald-Standort entfernt. Der Lengenfelder Standort kann nachweislich erst frühestens um die Jahrhundertwende von O. pallens bewachsen worden sein. Der Standort ist ein nach Norden abfallender Damm, welcher durch starkes Abschürfen eines mit Muschelkalk durchsetzten Röthügels (Oberer Buntsandstein) geschaffen wurde. Dieser so neu geschaffene jungfräuliche Boden wurde 1885 mit Gräsern zur Nutzung frisch eingesät. Zwischen dieser Grasnarbe, welche jährlich zweimal gemäht wird, hat sich dann auch O. pallens ausgebreitet. Die Wuchsstelle wird den ganzen Tag über von der prallen Sonne beschienen, ist aber sehr grundwasserreich. Dies wäre ein Biotop „feucht, warm ohne jeglichen Schatten“. Außer dem Hainich hat Dr. Möller noch den Standort des Dün auf dem Eichsfeld angegeben (S. 177). In der Flora von Südhannover 1. und 2. Teil von Dr. Peter, Prof, und Direktor des botanischen Gartens Göttingen, finden wir O. pallens im geographischen Südhannover nicht. Prof. Peter zitiert darin nur die zwei von Dr. L. Möller schon aufgeführten Standorte „Hainich und den Dün im Eichsfeld“.

Zum Abschluss des Eichsfeldes nach Westen finden wir in der „Flora des mittleren Werratales” von Ernst Fröhlich (Verlag A. Rosenbaum, Eschwege) auf Seite 79 – O. pallens – im Hochwald auf dem Plateau der Plesse. Auf diesen Standort habe ich schon anfangs hingewiesen. Aber auf S. 64 beschreibt Ernst Fröhlich noch einen Standort von O. pallens (den einzig bis jetzt benannten Standort westlich der mittleren Werra).

Er schreibt auf Seite 64: Im Hainbuchenwald auf dem Plateau der Graburg, einem Teile des nördlichen Randes der Ringgauer Kalkplatte (humusarmer Kalkboden).

O. pallens blüht im Nordwesteichsfeld nach schnee- und eisfreien Vorlenzen schon im letzten Drittel des April, normal aber erst im ersten Drittel des Mai.


Lambert Rummel, Lengenfeld unterm Stein
(Quelle: „Mühlhäuser Warte“, Ausgabe 1957/10, S. 155-158)



 

Schriften:

  • Dr. Eberle, Wetzlar, Maiheft 1957, Natur und Volk, Frankfurt/M.
  • Prof. Dr. Otto Schwarz:  „Thüringen, Kreuzweg der Blumen“, Urania-Verlag, Jena
  • Prof. F. Neureuter: „Illustrierte Flora des Eichsfeldes“, Heiligenstadt
  • Dr. L. Möller: „Flora von Nordwestthüringen“, Mühlhausen
  • Prof. Dr. Peter: „Flora von Südhannover“, Göttingen (Dank für Überlassung Herrn Lehrer Reimann, Lyzeum Duderstadt.)
  • Ernst Fröhlich: „Flora des mittleren Werratales“, Eschwege (Dank für Überlassung Herrn Rektor i. R. Fick, Duderstadt.)
     

Dank auch den Mühlhäuser Heimatfreunden des Kulturbundes.

Bild: Photo Hardegen, Lengenfeld unterm Stein.